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In einem Zeit-Artikel rümpft der Journalist und Autor Florian Kessler die Nase über die Bürgerlichkeit der Gegenwartsliteraten. Es folgt eine kleine Debatte in den deutschen Feuilletons. Was sagt sie uns? Und was nicht? Ein Essay über einen unheimlichen Diskurs und die Gespenster des deutschen Kulturjournalismus.

Von Peer Trilcke

Ein Gespenst geht um im deutschen Blätterwald – das Gespenst des bildungsbiederbürgerlichen Jungliteraten. Aus den Tiefen des kulturjournalistischen Unbewussten heraufbeschworen wurde es vom jungen Sachbuchautor und Literaturkritiker Florian Kessler, der sich in einem ebenso gewitzten wie süffigen Artikel einer der alten marxistischen Beschwörungstechniken bedient hat, nämlich des bösen Blicks auf die sozialen Hintergründe der Güterproduktion, in diesem Fall der Produktion von Gegenwartsliteratur: Aus welchen Klassen, aus welchen Schichten, aus welchen Milieus, fragt Kessler, rekrutieren sich eigentlich die deutschen Gegenwartsliteraten?

Das ist eine durchaus berechtigte Frage, auch wenn die Antwort vordergründig wenig überraschend ausfällt. Doch in der Frage steckt einiges Potenzial. Und vielleicht ist es ja Sinn und Zweck eines nicht nur Oberflächen inspizierenden, Details abtastenden Kulturjournalismus, eben solche scheinbar fraglosen Fragen aufzuwerfen, um sich von ihnen in die Tiefe ziehen zu lassen, ihre Folgen und Folgefragen für ein paar Tage, Wochen, Nummern zu ergründen.

Autor-Info

Peer Trilcke ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Seminar für Deutsche Philologie und als Nachwuchswissenschaftler am Graduiertenkolleg Literatur und Literaturvermittlung im Zeitalter der Digitalisierung beteiligt. Er ist Mitbegründer und -herausgeber von Litlog.
 
 
In der, nennen wir sie ›Kessler-Debatte‹ ist das bisher allerdings nur ausnahmsweise geglückt (eine Liste der bisher publizierten Beiträge befindet sich am Ende des Artikels). Das liegt zum Teil an der mangelnden Reflexions- und Selbstreflexionsbereitschaft einiger Beiträger, im Einzelfall auch an der merkwürdigen Ignoranz gegenüber dem Standpunkt des anderen, an dem Hang zur Selbstbespiegelung, zum monologischen Diskurs, zum Geschwafel. Es liegt darüber hinaus aber auch an einigen Mechanismen der Debattenführung, die meines Erachtens für den institutionalisierten deutschen Kulturjournalismus symptomatisch sind. Die ›Kessler-Debatte‹ ist insofern gerade dort bemerkenswert, wo sich zeigt, was sie nicht zu leisten in der Lage oder nicht zu leisten gewillt ist: Besonderes Interesse verdient nicht so sehr das, was gesagt wurde, sondern das, was an den Rand gerückt, was klamm und heimlich aus dem Diskurs ausgeschlossen wurde. Fragen wir also nach den hintergründigen Mechanismen der ›Kessler-Debatte‹. Und fragen wir nach ihrem Verdrängten.

Ach, das Bildungsbürgertum

Am Anfang steht freilich Kesslers Frage. Aus welchen sozialen Welten stammen sie also, die deutschen Gegenwartsliteraten? Nun, so schließt Kessler aus seinen Beobachtungen, die er an der ›Schreibschule‹ Hildesheim (an der er selbst studierte, wo er promoviert wurde und als Dozent tätig war) und andernorts im Literaturbetrieb machen konnte: Sie erwachsen im Wesentlichen aus einem »einzigen beharrenden Milieu[]«; man habe es mit »Lehrerkindern und Ärztekindern und noch mehr Lehrerkindern und noch mehr Ärztekindern« zu tun, wobei die späterhin erfolgreichsten sogar jene mit den »hochrangigsten bundesrepublikanischen Eltern« seien: »Professorenkinder«, ›Bundestagsdirektoren-Töchter‹, ›Richter- und Managersöhne‹. Und weil das für ein ›einziges Milieu‹ vielleicht doch etwas zu heterogen ist, spitzt Kessler seine Beobachtung noch einmal zu: Es sei vor-, ja überwiegend das »Bildungsbürgertum«, aus dem die jungen deutschen Gegenwartsliteraten entsprießen. Überrascht? Gar erschreckt?

Bitte nicht im Ernst. Erschrecken müsste man eher über diejenigen, die tatsächlich geglaubt haben, dass in unserer Jahr für Jahr ob ihrer sozialen Undurchlässigkeit gerügten Republik gerade die (ja, immer noch) sozial prestigeträchtige und habituell anspruchsvolle Schriftstellerlaufbahn für jedermann offenstehe. Dass also, wie Kessler in seinem zweiten, nicht mehr ganz so gewitzten Debattenbeitrag ironisch bemerkt (SZ vom 6.2., leider nicht online), gerade im Literaturbetrieb »vollständige soziale Schwerelosigkeit« herrsche, »so dass jeder vergnügt als Gleicher unter Gleichen schreiben, sprechen, schweben kann«.

Man kann es sich doch denken: Woher sollten sie denn sonst kommen, die Anwärter auf die ohne kulturelles Kapital (ergo Bildung, z.B. Kenntnis der Literatur, aber auch, ganz rudimentär, Sprach-, Schreib- und Erzählkompetenz) kaum auszufüllende Rolle des Schriftstellers, wenn nicht in erster Linie aus jenen sozialen Welten, in denen der Geist der höheren Bildung bereits das Kinder- und Jugendzimmer durchweht? Und man kann es auch nachlesen, jedenfalls für Frankreich, und zwar in der Studie Doppelleben. Schriftsteller zwischen Beruf und Berufung (2011) des Soziologen Bernhard Lahire.

Kesslers Thesen

Dass die Gegenwartsliteraten und mit ihnen die Heerscharen des Literaturbetriebs im Wesentlichen ›bildungsbürgerlicher‹ Herkunft sind (wie seit Jahrhunderten der Fall), ist insofern kaum der Aufregung wert. Gewiss, es gibt Gegenbeispiele, so sozial homogen wie Kessler es suggeriert, ist die Schriftstellerkaste nicht. Auch hinkt das leidlich anachronistische, allerdings weiterhin wallungswertige Label ›Bildungsbürgertum‹ dem Differenzierungs- und Modernisierungsgrad der gegenwärtigen Gesellschaft etliche Jahrzehnte, wenn nicht ein knappes Jahrhundert hinterher. Aber wer Kessler solche Komplexitätsreduktionen zum Vorwurf macht, ist entweder Wissenschaftler – oder führt anderes im Schilde.

Das tut allerdings auch Kessler selbst. Denn im überraschungsfreien Hinweis auf die soziale Homogenität der Gegenwartsliteraten erschöpft sich sein Artikel keineswegs. Kessler verknüpft die soziologische These nämlich noch mit vier weiteren: einer habituellen, einer axiologischen, einer ökonomischen und einer institutionellen. Das Ergebnis ist eine zwar polemisch vorgetragene, aber dessen ungeachtet systemische Diagnose, über die man nachdenken könnte, wenn man denn wollte.

Etwas nüchterner formuliert als Kessler es getan hat, lautet die Diagnose so: Aus der tendenziell gleichartigen sozialen Herkunft resultiere auch eine habituelle Konformität der Gegenwartsliteraten, eine Gleichförmigkeit der Wahrnehmungs- und Denkschemata, der Verhaltensweisen, des Geschmacks. Dies wiederum führe, so die axiologische These, zu einer spezifischen Machart auch der literarischen Werke, die – ebenfalls weitgehend uniform – einer »satte[n] Form von ästhetischer Bürgerkinder-Anspruchslosigkeit« verpflichtet sind, eine Form, die man als »Speck Lit« bezeichnen könne. Dies alles hänge dabei zusammen, es folgt die ökonomische These, mit Transformationsprozessen auf dem Buchmarkt: »[E]ine immer kleinere Konstellation von Großagenten, Großverlagen und Großhändlern« entscheide heute, »welche […] Bücher die Chance erhalten, zu deutlich sichtbaren Erfolgen hochgepusht zu werden.« Und dies seien vor allem, wie sollte es auch anders sein, marktgängige Bücher (axiologische These), die zu produzieren eine gewisse ästhetische Geschmeidigkeit auf Seiten der Autoren wie auch eine gewisse habituelle Passung – Bourdieu spricht von ›struktureller Homologie‹ – zwischen Produzenten, Distributoren und Rezipienten voraussetze, die eben alle primär aus bildungsnahen Milieus kommen (soziologische These). Eine besondere Rolle in diesem Marktmechanismus spielen dabei, nun die institutionelle These, die ›Schreibschulen‹, Kessler verweist auf seine Alma Mater Hildesheim und auf das Deutsche Literaturinstitut Leipzig. Die dort institutionalisierte Schriftstellerausbildung sei, so Kessler, Teil des sozialen Selektionssystems, das im zeitgenössischen literarischen Feld operiert, sei gewissermaßen ein Interface, das zwischen dem potentiellen Schriftstellernachwuchs und dem spezifische ästhetische Produkte (und habituell passende Akteure) verlangenden Markt vermittelt.

Systemisch denken?

Wenn das tatsächlich die Argumentation sein sollte, die Kessler in seinem durch ein Ego-Narrativ gebrochenen Beitrag entfalten wollte, dann ist sie zum einen höchst angreifbar: Zu vage und empirisch ungestützt sind viele Aussagen, zu zahlreich sind die nur unterstellten Kausalitäten und Determinismen. Zum anderen aber ist die Argumentation komplexer als häufig unterstellt, ist multivariabel, multifaktoriell. Im Bourdieu’schen Sinne denkt Kessler die Entstehung von Literatur als Wechselwirkung und gegenseitige Durchdringung von Habitus und Feld, von Sozialisierung und sozialem Handlungsraum. Das sich ständig wandelnde – dabei von anderen Feldern wie dem ökonomischen beeinflusste – Feld der Literatur stellt zu jedem Zeitpunkt einen Raum möglicher Werke, möglicher Stile, Themen, Selbstinszenierungen bereit; im literarischen Feld zu reüssieren, setzt dann voraus, dass man über die Dispositionen verfügt (was nichts anderes heißt als: sie erworben zu haben, wie und wo auch immer), eines dieser möglichen Werke wirklich werden zu lassen. Es geht dabei wohlgemerkt nicht um einen neuen Sozialdeterminismus, es gibt zahlreiche Spielräume, die es kreativ zu gestalten gilt, es gibt ein Spektrum an Möglichkeiten, die man nutzen kann, bessere und schlechtere. Was es jedoch nicht gibt, das ist die unbedingte Freiheit des Schöpferischen. Literatur, man mag das beklagen, ist – wie alles was wir tun, was wir hervorbringen – eben auch ein soziales, ökonomisches, institutionelles Phänomen.

Wirklich bestritten hat das in der ›Kessler-Debatte‹ niemand. Leider hat sich jedoch auch niemand entschieden mit dem von Kessler in den Blick genommenen Gesamtzusammenhang befasst: kaum irgendwo die Bereitschaft, systemisch zu denken. Herausgegriffen hat man sich stattdessen einzelne Details, einzelne Thesen, ab und an auch die Verknüpfung einzelner Thesen. Das ist – auch angesichts der Fragwürdigkeit einiger Thesen, einiger Verknüpfung – zwar durchaus legitim. Es lenkt aber von dem ab, worauf Kessler, wenn ich ihn recht verstehe, hinweisen wollte. Verspielt wird damit die Möglichkeit, zu den wirklich interessanten Fragen zu gelangen, etwa zur Frage, was aus Kesslers Diagnose denn eigentlich folgen könnte. Stattdessen wird die Debatte in Richtungen gelenkt, in denen sie sich geradezu zwangsläufig erschöpfen muss.

Erschöpfter Meinungsaustausch, leere Polemik

Kaum der Diskussion wert ist dabei die offenkundig destruktive Wendung der Debatte ins Habitus-bashing und Stereotypen-listing, nachlesbar in den beiden bisher letzten Beiträgen von Marko Martin und Klaus Ungerer. Da wird aus dem betrieblichen Nähkästchen geplaudert, werden selbstgefällig Pappkameraden umgeboxt, wird eine ›Schaut, wie lächerlich diese Jungschriftsteller sind‹-Anekdote an die andere gereiht. Mit dem einzigen Ergebnis, dass dazu wirklich niemand ernsthaft mehr etwas sagen möchte. Denn die leere Polemik lässt man am Besten dorthin laufen, wo sie hingehört – eben ins Leere.

Bemerkenswerter ist demgegenüber ein Debattenmechanismus, der nicht dazu führt, dass niemand mehr etwas sagen möchte, sondern dazu, dass sich nichts mehr sagen lässt. Dies ist dort der Fall, wo die Beiträge auf die axiologische These, also auf die Qualität der Gegenwartsliteratur, insbesondere der jüngeren Gegenwartsliteratur eingehen. Dabei spielt es für die Debatte insgesamt kaum eine Rolle, ob die Gegenwartsliteratur nun als grandios oder als grauenhaft beurteilt wird (beide Urteile finden sich in den Erwiderungen auf Kessler). Der Punkt ist vielmehr, dass der Fokus auf die Qualitätsfrage jede sinnvolle Anschlusskommunikation unwahrscheinlich werden lässt, denn die literarische Produktion ist nicht erst seit gestern so vielgestaltig, dass sie selbstverständlich immer zugleich grandios und grauenhaft ist, je nachdem, was man sich gerade rauspickt und wofür oder wogegen man gerade argumentieren möchte. Ein Beispiel: In seinem Beitrag zur ›Kessler-Debatte‹, veröffentlicht am 3. Februar, konstatiert Christoph Schröder: »DIE Literatur, die es als solche nicht gibt«, hat »kein Problem, nicht im deutschsprachigen Raum, nicht heute. Das war vor zwanzig Jahren möglicherweise noch anders«. Weniger als einen Monat zuvor, am 9. Januar, hatte derselbe Christoph Schröder angesichts der aktuellen Frühjahrsvorschauen, die wieder einmal »Familienromane und viel deutsche Geschichte« versprechen, gleichwohl noch gestöhnt: »Kann die Gegenwartsliteratur uns nicht mal überraschen?« Also doch ein Problem, vielleicht doch zu konform?

Noch einmal: Es geht nicht darum, ob diese Urteile zutreffen oder nicht; sie sind immer zugleich richtig und falsch. Entscheidend ist, dass es, sobald die Frage nach der Qualität der Gegenwartsliteratur auf diese Weise ins Zentrum rückt, zu allerlei Scharmützeln kommen kann, nicht aber zu irgendeiner Art von Erkenntnisgewinn. Was dann nämlich in der Regel folgt, ist das in der ›Kessler-Debatte‹ weithin zu beobachtende name dropping, ist die Argumentation mit dem Einzelbeleg: Nimmt man diese und diese und diese Autorin, zeigt sich die Qualität, nimmt man jenen und jenen und jenen Autor, zeigt sich die ganze Misere. Und man nimmt, was man gerade braucht. Was eine Diskussion hätte werden können, verliert sich so im Meinungsaustausch, der schon bald uninteressant wird, einfach weil er aus strukturellen Gründen keinen Fortschritt ermöglicht.

Die Geister, die ich rief

Sich erschöpfender Meinungsaustausch, leere Polemik. Ganz unschuldig ist Kessler an diesem Debattenverlauf leider nicht. Hat er doch selbst die axiologische These in den Vordergrund gerückt, sie gar zum aufmerksamkeitsheischenden Label »Speck Lit« verdichtet; hat er sich doch selbst der Anekdote bedient, sich dem Tratsch und dem name dropping hingegeben. Dass die solchermaßen Betratschten oder Gedroppten nicht gerade gewillt waren, sich mit Kessler systemischer Diagnose auseinanderzusetzen – wie etwa Nora Bossong oder Olga Grjasnowa in ihren Erwiderungen –, ist nur allzu verständlich. Ihnen ihre Verteidigungshaltung vorzuwerfen, wäre wohlfeil.

Insofern war die Debatte womöglich von Anfang an dazu verurteilt, dort zu landen, wo sie mit Martins und Ungerers Repliken jetzt tatsächlich gelandet ist. Das ist schade. Und dass ich darüber hinaus den Verdacht nicht los werde, die Debatte hätte überhaupt nicht stattgefunden, Kesslers Artikel wäre überhaupt nicht erschienen, wenn er nicht mit jenem steilen Werturteil, mit jenem Betriebsgeflüster gespickt wäre – ist ernüchternd.

Die Marktlogik – und sonst nichts?

Doch zum Glück gibt es noch ein wirkliches Gespenst in der Debatte. Auch dieses Gespenst ist kaum erschreckend; unheimlich ist nur die Tatsache, dass es während der Debatte überhaupt nicht in Erscheinung getreten ist. Dabei treibt es sein Unwesen im Zentrum der Kessler’schen Argumentation, die ja weniger auf die seit Jahrhunderten währende bildunsgbürgerliche Sozialität der Literatur zielt, sondern vielmehr gewisse aktuelle Entwicklungen auszumachen meint, die diese Sozialität noch forcieren, ja sogar zu einer so bisher nicht dagewesenen Konformität im literarischen Feld führen.

Benannt werden diese Entwicklungen im Rahmen der ökonomischen These. In den letzten Jahrzehnten ist es, wie Carolin Amlinger im Freitag sachkundig ausgeführt hat, zu einer folgenreichen Transformation des Buchmarkts gekommen. Kessler hat diesen Prozess mit Bezug auf John B. Thompsons Studie Merchants of Culture (2010) angesprochen und unter anderem auf die Monopolisierung des Buchmarkts, auf die Konzentration auf Spitzentitel, auf die Macht der Mittler und Agenturen verwiesen. Nun sind diese Entwicklungen alles andere als unbekannt und insofern, wenn auch unschön, keineswegs unheimlich. Unheimlich ist allerdings, mit welcher Selbstverständlichkeit diese ökonomischen Rahmenbedingungen als unhintergehbar hingenommen werden: »Es ist die Marktlogik!« ist der Freitag-Artikel von Amlinger überschrieben, so als hätte diese offenbar über allem waltende, geradezu schicksalshafte ›Logik‹ uneingeschränkte Geltungsmacht. Aber ist das so?

Schon an Thompsons Studie wurde bemängelt, dass sie sich zu sehr auf den zwar transformierten, letztlich aber immer noch traditionellen Buchmarkt konzentriert. »A greater degree of attention«, schreibt Rory Litwin in einer Rezension, »could have been given to players in the industry who are beginning to view recent changes in the field as oppurtunities. Those are the people whose critical visions often indicate where things are headed«. Die ach so fatale »Marktlogik« ist eben keineswegs einsinnig. C. Clayton Childress etwa hat beschrieben, wie sich in den strukturellen Löchern der verfestigten Netzwerke, in den Nischen des Marktes neue Gestaltungsmöglichkeiten auftun, die zwar auch von den großen Akteuren genutzt werden, aber eben nicht nur.

War da was?

Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass, von wenigen Nebensätzen abgesehen, nirgendwo in den Beiträgen zur ›Kessler-Debatte‹ einmal die Überlegung aufkommt, wie sich eine deutsche Gegenwartsliteratur zu diesen neuen Nischen verhält oder zumindest verhalten könnte. Kaum einmal wird auf die Digitalisierung, auf die fortschreitende Fragmentarisierung von Öffentlichkeiten, auf die Multiplizierung von Vertriebswegen, auf die Polyphonisierung des literaturkritischen Diskurses und all die anderen -ierungen eingegangen, die unsere Welt seit einigen Jahren durcheinanderwirbeln. Die ›Kessler-Debatte‹ weist nicht nur einen gespenstischen Hang zum bildungsbürgerlichen Vokabular auf; sie ist auch wesentlich prä-digital. Wir befinden uns inmitten eines umfassenden Prozesses, in dem die Art, wie wir das Soziale denken, einen ebenso grundlegenden Umbau erfährt wie unsere Formen und Techniken der (literarischen) Kommunikation. Und kaum jemand kommt auf die Idee, dass das für die Debatte, die man gerade führt, relevant sein könnte?

Wie gut die printmediale Verdrängung des Digitalen funktioniert, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass Kesslers Beitrag ursprünglich für eine ePublikation geschrieben wurde (nämlich im mikrotext-Verlag), diese subtile, geradezu einen performativen Selbstwiderspruch erzeugende Pointe in der Debatte aber keine Rolle spielte. Der Text war nun Print, das ›e‹ war erfolgreich getilgt. Ebenso symptomatisch ist, dass auf die Frage, wie man dem von Kessler diagnostizierten Zustand denn begegnen könnte, gleich mehrfach (hier, hier) mit der rhetorischen Gegenfrage geantwortet wurde, Kessler wolle doch wohl nicht einem neuen Bitterfelder Weg das Wort reden. Das Andere des ›bildungsbürgerlichen Literaturbetriebs‹, der es sich, Kesslers Diagnose zu Folge, (mehr oder minder bewusst) im starren Griff der Großindustrie gemütlich gemacht hat, scheint tatsächlich immer noch die staatsproletarische Literatur zu sein. Nicht im Ernst, oder?

Ein Psychoanalytiker der Kultur hätte gewiss seine helle Freude daran, hier einen bemerkenswert ausgeprägten Verdrängungs- und damit Abwehrmechanismus aufzudecken. Soweit muss man nicht gehen. Es reicht zu konstatieren, dass die ›bildungsbürgerliche‹ Literatur wie der ›bildungsbürgerliche‹ Kulturjournalismus ganz offensichtlich immer noch mehr Probleme mit sich selbst haben als mit der Welt, die sie umgibt. Ob das ein größeres Problem sein könnte, wird sich zeigen.

Mir würde es fürs Erste schon reichen, wenn das deutsche Feuilleton sich in den nächsten Beiträgen um ein wenig mehr Niveau bemühte. Vielleicht würden wir dann etwas weniger Geschichten über biernippende Nachwuchsautoren, hochherrschaftlich residierende Schreibschuldozenten oder gapelstaplerfahrende literarische shooting stars zu lesen bekommen – und mehr Geschichten darüber, wie, jenseits der Bildungsbiederbürgerlichkeit, die Nischen der neuen Welt ausgestaltet werden könnten.

Die Debattenbeiträge zum Nachlesen

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 Veröffentlicht am 16. Februar 2014
 Bild von Jason Rosenberg via flickr, Lizenz CC BY 2.0
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