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Nicht-Orte der Kälte

Marc Augés Tagebuch eines Obdachlosen ist weder Feldforschung noch Roman. Als »ethnofiktionale Studie« untertitelt erzählt es von einem fiktiven Charakter, dessen Schicksal der psychischen Orientierungslosigkeit und Vereinsamung auf die soziale Realität tausender, nicht nur Pariser Bürger rekurriert.

Von Hartmut Hombrecher

Dagobert Duck gilt als reichste Ente der Welt. Auch wenn sich die Angaben über sein Vermögen widersprechen: Es wirkt stets vollkommen phantastisch. Das Forbes-Magazin hat nun für die Reichenliste »Fictional 15« sein Privatvermögen ausgerechnet und für das Jahr 2011 mit 44,1 Milliarden US-$ angegeben. Der reichste Erpel der Welt würde Dagobert Duck damit bleiben, doch zum vermögendsten Menschen hätte es nicht genügt. Dort käme er nur auf den vierten Platz.

Wenn selbst Dagobert Duck die Einkommensleiter nicht so hoch geklettert ist wie die bestbemittelten Menschen, zeigt sich, welche teils absurden Ausmaße das kapitalistische Finanzsystem angenommen hat. Am anderen Ende der Leiter stehen Menschen, die von ihrer Arbeit kaum Leben können. Das betrifft natürlich vor allem solche, die in absoluter Armut leben müssen, also weniger als einen US-$ am Tag zur Verfügung haben. Solche finanzielle Not gibt es in Mitteleuropa nach wie vor selten. Aber auch hier macht sich eine relative Armut breit, die es lange Zeit nicht mehr gab: Menschen, die Vollzeit in Großstädten arbeiten, können sich keine Wohnung mehr leisten und müssen wählen, ob sie essen oder ein Dach über dem Kopf finanzieren wollen. In ruralen Gebieten gibt es keine Arbeit, in den Metropolen keinen bezahlbaren Wohnraum. Besonders betroffen ist Frankreich, wo allein in Paris etwa 35.000 Menschen trotz eines regelmäßigen Einkommens kein Obdach haben.

Im Tagebuch eines Obdachlosen greift der Pariser Anthropologe Marc Augé diese Problematik auf. Das Werk, bereits 2011 unter dem Titel Journal d’un SDF in Frankreich erschienen, wurde nun für die Beck’sche Reihe übersetzt. Aus Sicht eines ehemaligen Finanzbeamten, der von seinen knapp 2000€ Pension an seine erste Ehefrau 850€ Unterhaltszahlungen leisten muss, wird der Weg in die Obdachlosigkeit geschildert.

Augé changiert dabei zwischen den gängigen Genres und gibt seinem Werk den Untertitel »Ethnofiktion«. Wie in einem integrierten Vorwort zu lesen ist handele es sich weder um eine klassische Feldstudie noch um einen Roman. Es sei »sehr wichtig, sich klar zu machen, welche Auswirkungen bestimmte Situationen im individuellen Bewusstsein zeitigen und welche Entwicklungen sie dort nehmen«, weshalb auch nicht nur vermeintlich objektive Datensätze analysiert werden dürften, sondern auch »Erzählungen, die niemals ans Licht kommen werden«, erzählt werden müssten.

Man muss nicht in einen metaphysischen Solipsismus verfallen, um zu bemerken, dass dieses Vorgehen problematisch ist, nicht nur, weil hier kein tatsächlich existierender Obdachloser berichtet, sondern weil es die erzählende Person nur in der erzählten Welt gibt. Auch wenn diese auf die aktuale Welt verweist und Augé durch die genauen Ort- und Raumbeschreibungen im Tagebuch eines Obdachlosen besonders die Pariser Leserschaft auf ihre Lebenswelt stößt, entspricht die gesamte Psyche doch den Studien und der Phantasie eines gutsituierten Sozialwissenschaftsprofessors. Natürlich bleibt Augé nicht vor der Writing-Culture-Debatte stehen und reflektiert die Subjektivität. Er sucht nach neuen Formen der Ethnographie, doch dem selbst formulierten sozialwissenschaftlichen Anspruch kann ein solches Werk nicht gerecht werden.

Buch-Info


Marc Augé
Tagebuch eines Obdachlosen.
Ethnofiktion
Aus dem Französischen übersetzt von Michael Bischoff
C. H. Beck: München 2012
103 Seiten, 10,95€

 
 
Stattdessen liest es sich wie eine Romanfassung des 1992 publizierten Grand Œuvre Augés, welches 2010 in einer Neuauflage ebenfalls bei Beck unter dem Titel Nicht-Orte erschien. Der Sozialwissenschaftler versteht unter einem Nicht-Ort einen monofunktionalen Ort oder Raum, der keine Identität ermöglicht. Es sind Orte, die nicht zum Verweilen gedacht sind, die im Leben der Menschen rein transitorischen Charakter haben: Flughäfen, Autobahnen, Aufzüge, Bahnhöfe werden immer wieder als Beispiele genannt. Es ist aber auch das Trottoir, auf dem Augés Obdachloser seine Tage verbringt. Es ist das Auto, in welchem er schläft, und es ist sogar das Café, wo er versucht, Beziehungen zu Menschen aufzubauen. Alle diese Orte sind jedoch nicht für den andauernden Aufenthalt gedacht, sie machen einsam und weisen dem Menschen eine einzelne Funktion zu, die zur Identitätsbildung nicht genügt und die alle Unterschiede des Wesens nivelliert. Augé geht davon aus, dass die Nicht-Orte charakterisierend für die surmodernité sind, in welcher wir leben. Was also, wenn diese Nicht-Orte zu den einzigen Orten werden, in denen sich das Leben abspielt?

So wird der Obdachlose zum Heimatlosen, zum Identitätslosen und immer häufiger verliert er die Orientierung bei seinen ziellosen Spaziergängen durch die Stadt. Die neu gewonnenen Kontakte bleiben oberflächlich und weder ein verbleibender Freund in der Auvergne noch eine Frau, auf welche er in seinem Stamm-Café trifft und die sich künstlerisch mit den Nicht-Orten beschäftigt, können ihm aus seiner Lebenssituation helfen. Er selbst begreift die Obdachlosigkeit als Endpunkt seines Scheiterns. Die anfängliche romantische Verklärung des Vagabundenlebens weicht Resignation und Desillusionierung, an welchen der Protagonist schließlich zerbricht.

Das spiegelt sich nicht nur in Handlungen wider, sondern vor allem in der Sprache. Orts- und besonders Zeitangaben werden unpräziser, Personenbeschreibungen nehmen ab, die anfängliche Intertextualität weicht zugunsten von Intratextualität. Dabei bleiben viele weitere Probleme von Obdachlosen ohne festes Einkommen ausgespart, selbst wenn sie in der Figur des Bettlers François mitgedacht sind, da sie den Protagonisten nicht direkt betreffen: Gewalt und Unterernährung kann er abwenden, da es ihm aufgrund des verbleibenden Geldes gelingt, an ihn herangetragene Rollen zu spielen, die Fassade zu wahren und die Obdachlosigkeit vor seinen oberflächlichen Kontakten zu verbergen. Die psychische Orientierungslosigkeit, Vereinsamung und Verwahrlosung wachsen jedoch mit jeder Seite des Tagebuchs.

Insofern ist die Ethnofiktion durchaus geglückt; sie schildert eine mögliche Situation und verweist auf gesellschaftliche Probleme. Auch wenn sich Ethnofiktion damit in ihrem referentiellen Charakter nicht wesentlich von Romanen mit gesellschaftspolitischem Anspruch unterscheiden lässt und die Fiktionalität nicht mit wissenschaftlicher Genauigkeit einhergeht, gelingt Augé ein lesenswertes Portrait großstädtischer Lebenswelten, ein nachdenkliches Werk über Zwischenmenschlichkeit, eine sublime Gesellschaftskritik: Das Tagebuch eines Obdachlosen fordert zur Reflexion auf, es ermahnt uns zu handeln.



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 Veröffentlicht am 30. Juli 2012
 Kategorie: Belletristik
 Bild von penywise via morguefile.
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