Literarisches Istanbul II: Es könnten die Erinnerungen an seine Heimatstadt Istanbul sein, die den Nobelpreisträger Orhan Pamuk zu seiner kreativen Arbeit inspirieren. Mit Talent und Liebe zur Literatur erreichte der Autor zahlreicher Romane internationale Aufmerksamkeit. Ein Portrait.
Von Mareike Hengelage
Nach einem ersten Überblick über die Sternstunden türkischer Literatur ist es Zeit, sich einer lebenden Größe der Istanbuler Literaturszene zuzuwenden und das Wunderkind der Stadt, Orhan Pamuk, in den Mittelpunkt des Interesses zu rücken.
Anfang dieses Jahres erschien Orhan Pamuks essayistische Selbstreflexion Der naive und der sentimentalische Romancier (Hanser Verlag) im deutschen Buchhandel. Damit erweitert der viel gelesene türkische Autor die Zahl und die Bandbreite seines literarischen Schaffens – mit 59 Jahren kann Pamuk bereits auf eine lange Karriere als Künstler und Dichter zurückblicken.
Befasst man sich mit der türkischen Literatur der letzten Jahrzehnte, fällt einem unweigerlich Pamuks literarische Produktivität und die Verknüpfung zu seiner Heimatstadt ins Auge. Im europäischen Raum ist Orhan Pamuk nach 30 Jahren und vielfältigen Werken inzwischen etabliert und seine Romane werden mit immer weiter abnehmendem Zeitabstand ins Deutsche übersetzt und verlegt. Sein Debüt Cevdet Bey Ve Oggulari brauchte dagegen fast 30 Jahre bis es für den deutschsprachigen Leser als Cevdet und seine Söhne (2011) erhältlich war.
Die vielseitigen politischen und kulturellen Ansichten innerhalb einer Familie inspirierten ihn auch zu seinem zweiten Roman Sessiz Ev (1983), welcher vor drei Jahren unter dem Titel Das stille Haus erschien. Hier erzählt Pamuk von drei Familienmitgliedern, die ihre Großmutter auf ihrem Kuraufenthalt besuchen. Es werden verschiedene politische und kulturelle Ansichten vertreten, die zeitgleich das politische, teils extremistisch orientierte Meinungsbild innerhalb der Türkei widerspiegeln sollte.
Weniger politisch, mehr historisch sind Pamuks Romane Die weiße Festung (Beyaz Kale 1985) und Rot ist mein Name (Benım Adım Kırmızı 2000) konzipiert: Sie spielen jeweils im 17. und 16. Jahrhundert. Doch eröffnen sich mit der historischen Verortung verschiedene Erzähl- und Deutungsebenen. Rot ist mein Name ist nicht nur historischer Roman, sondern Kriminal-, Liebes- und Kulturgeschichte zugleich. Nach Pamuk reflektiert die Handlung die Beziehungen zwischen Ost und West und lehrt eine multiple Sicht auf beide Kulturkreise.
In dem historischen Roman Die weiße Festung lässt Pamuk die Protagonisten ihre Identitäten tauschen, ein zentrales Motiv, das er auch in Das schwarze Buch (Kara Kitap 1990) verwendet. Diese Thematik des Identitätsverlusts, das Spiel mit Doppeldeutigkeiten und spirituellem Erleben, welches Pamuk beherrscht, deutet auf die Verarbeitungen des Orientalischen und der traditionellen Mystik in seinen Werken hin und steht für Pamuks damaligen Bruch mit der populären realistischen Erzählweise. Anfang der neunziger Jahre dominieren Anspielungen, Allegorien und mystische Elemente in der kreativen literarischen Arbeit Pamuks und finden ihre Vollendung in seinem Roman Yeni Hayat (Das neue Leben 1998) von 1994, in dem die Suche nach einem geheimnisvollen, lebensverändernden Buch sinnbildlich für eine romantische Vorstellung über eine ursprüngliche Weisheit steht.
Nachdem Orhan Pamuk während eines längeren Aufenthaltes in New York eine Essaysammlung zusammengestellt hatte, die 2010 unter dem Titel Der Koffer meines Vaters veröffentlicht wurde, begab er sich auf Recherchereise für sein politisch angehauchtes Meisterwerk Kar (Schnee 2005), welches er 2002 fertig stellte und das ihn international bekannt machte. Es handelt von dem Dichter Ka, der in Frankfurt lebt und Anfang der neunziger Jahre in die Türkei reist, um seine Wurzeln zu ergründen. In Kars, am Ostrand der Türkei, verliebt er sich in Ipek, während die Stadt durch einen Schneesturm von der Außenwelt abgeschottet wird. Typisch für Pamuks Handlungsführung und dennoch beeindruckend bringt er verschiedenste politische, religiöse, kulturelle und ideologische Sichtweisen und Überzeugungen zur Sprache und gibt ihnen unkommentiert eine Stimme, die zwischen traditionalistischem Denken und Handeln und moderner Aufgeschlossenheit variiert.
Damit lieferte der Autor den damaligen Kritikern des Türkei-EU-Beitritts Gesprächsstoff und wurde deshalb teilweise seitens der türkischen Regierung und der Medien kritisiert. Honoriert wurde seine literarische Ehrlichkeit durch mehrere internationale und europäische Preise wie z.B. den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, den er 2005 verliehen bekam, und 2006 den Literaturnobelpreis.
Seitdem weltweit bekannt und anerkannt, setzte Pamuk seine schriftstellerische Tätigkeit fort. Seinen literarischen Schreibprozess und die Themenfindung schildert er in Der Blick aus meinem Fenster (2006).
Masumiyet Müzesi, Das Museum der Unschuld von 2008, ist Pamuks aktuellster Roman, der von einem Seitensprung eines verlobten Mannes mit einem jungen Mädchen handelt. Sinnbildlich steht hier die Handlung für den gesellschaftlichen Konflikt zwischen westlichen und östlichen Werten und Moralvorstellungen.
Dieser Zerissenheit zwischen West und Ost, Tradition und Moderne, Mystik und Sachlichkeit, Europa und Asien scheint besonders die Stadt Istanbul ausgesetzt zu sein, wie Orhan Pamuk in seiner autobiographisch geprägten Stadtbeschreibung Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt von 2003 thematisiert hat. Parallel zum Rückblick auf persönliche Kindheits- und Jugendepisoden portraitiert der türkische Schriftsteller die Kultur, die Bewohner und die verschiedenen Stadtviertel Istanbuls.
In schwarz-weiß Optik lässt er für den Lesenden Bilder und Eindrücke familiärer Intimität und erster Spaziergänge durch die Straßen entstehen und erinnert den Leser somit an den »längst verblassten« Glanz der ehemaligen Sultanstadt. Die »verschwundenen Bauten und alten Legenden«, die verfallenen Holzkonaks der toten Prinzen und Wesire, skizzieren den Niedergang des Osmanischen Reiches. Beim Gang über das alte Kopfsteinpflaster visualisiert und mystifiziert der junge Orhan das vergangene Istanbul mit seinen Herrschern, Dichtern und Künstlern und illustriert auf der anderen Seite das Alltagsleben vieler Istanbuler.
Die Ambivalenzen des Lebens am Bosporus erzeugen bei den Städtern eine schwarz-weiße Melancholie, im Buch hüzün genannt. Diese schleichende Tristesse ist Krankheit und Bereicherung zusammen. Die dunklen Seelenzustände sind nicht die eines einzelnen, sondern der Gemeinschaft und finden Eingang in die türkischsprachige Musik, Poesie und Literatur. Hüzün legt sich aber nicht nur wie ein Schleier über die Stadt, sondern in ihrer Tristesse liegt auch eine gewisse Schönheit und Sehnsucht verborgen. Hüzün erinnert an den einstigen, vergangen Glanz und Istanbul als Mittelpunkt des auseinander gefallenen Byzantinischen und Osmanischen Reiches.
Neben der kulturhistorischen Perspektive auf Istanbul widmet sich Orhan Pamuk seiner Familiengeschichte. Kindliche Eindrücke und Gefühle spielen in seiner autobiographischen Erzählung eine Rolle, genauso wie Anekdoten und Daten zu den Familienmitgliedern der Pamuk-Sippe. Dabei öffnet Pamuk mit Freizügigkeit die Büchse der Pandora und scheut nicht unangenehme Details über das Familien- und Intimleben preiszugegeben. Am Ende erfährt der Leser viel über eine Lebensphase der Schwermut des jungen Architekturstudenten und über seine Entscheidung, Schriftsteller zu werden.
Pamuks persönlicher Prozess des Erwachsenwerdens lässt sich für Leser jeglichen Alters und jedweder Herkunft nachfühlen und da er scheinbar keine kosmetischen Veränderungen an seinem Lebenslauf oder dem der Stadt Istanbul vornimmt, wirkt das Konstrukt aus Autobiographie und Stadtchronik in Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt einerseits so authentisch und andererseits liebevoll für den Leser aufbereitet.
Pamuks Gesamtwerk anhand seiner Verkaufszahlen und Ehrungen zu messen, wäre einfach und vorschnell. Die eigene Lektüre bestätigt aber den allgemeinen Konsens über sein Können und man kann schließlich eines feststellen: Es fällt nicht schwer, seine Literatur schätzen zu lernen. Ohne Anspruch auf Genialität illustriert Pamuk in jeder einzelnen literarischen Arbeit eine eigene Welt; Mikrokosmen, denen besonders die Stadt Istanbul zugrunde liegt.
Als Schauplatz der Handlung dient die Stadt an der Meerenge nicht nur Pamuk, sondern auch seinen kreativen Kollegen der Abteilung Kriminalgeschichten. Wer Istanbul wo und wie zum Tatort macht, wird im dritten und finalen Teil der Reihe »Literarisches Istanbul« geklärt.
Ein toller und ausführlicher Artikel!