Zu einer »fröhlichen Wissenschaft« begrüßte der Literaturwissenschaftler Kai Sina im Januar die Gäste des Literarischen Zentrums. Im schwarzen Sakko saß dieser neben seiner Gesprächspartnerin, der Literaturkritikerin Frauke Meyer-Gosau, in weißer Jacke. Die Kleiderwahl symbolisierte den kontroversen, fruchtbaren Schlagabtausch über den Begriff des literarischen Spätwerks.
Von Eva Tanita Kraaz
Das Spätwerk sei eine »Gattung mit eigenen ästhetischen Reizen«, beginnt Kai Sina lächelnd seine einleitenden Überlegungen. Sich den Lesern »noch einmal ‘nackt’ zu präsentieren« erklärte der Mitarbeiter am Lehrstuhl des Göttinger Literaturwissenschaftlers Prof. Dr. Heinrich Detering bereits vorab im Magazin »in Göttingen« zu einer wichtigen Kategorie für das Spätwerk. Dabei grenzt er sich ausdrücklich von vorherrschenden Definitionen ab, die im Spätwerk bloß die letzte Schaffensphase eines alternden Künstlers sehen oder es sogar als Schwundstufe beschreiben. Er zählt thematische Charakteristika auf, die er im Folgenden anhand von ausgewählten Texten benennen und besprechen möchte. Diese sind: Das Alter, das sich in der thematischen Auseinandersetzung mit dem Tod äußert und die Zeit, also die Auseinandersetzung mit Erinnerung.
Die Schauspielerin Imme Beccard liest zwei zu besprechende Texte ausdrucksvoll vor. Paul Austers Winterjournal und Heinrich Heines Rückschau sind die ersten Vorträge, denen das Publikum entspannt folgt. Austers Text erzählt mosaikartig aneinandergereihte Erlebnisse, die durch die Auseinandersetzung mit verschiedenen Narben am Körper des Ichs initiiert werden. Heine reimt über diesseitige Freuden und Leiden und eine positive Jenseitserwartung.
Leser in »happyness«Meyer-Gosau interessiert die gegensätzliche Haltung der beiden Texte. Die Jenseitserwartung Heines stehe im Kontrast zu Auster, der sich in »Duktus und Munterkeit als jemand, der noch gut dabei ist«, erzähle. Sina erklärt das Winterjournal als Übergangstext, in dem der Autor eine biographische Umbruchsituation gestalte. Das Ende sei sehr pathetisch, merkt er an und nimmt sich im gleichen Moment zurück: »Pathetisch ist kein Argument!« Befremdlich sei indes das »Ausstellen von Leistung«, womit der Literaturwissenschaftler auf die Beschreibung von Austers Liebhaberinnen verweist. Seine Gesprächspartnerin versteht dies dagegen als das Zeichnen einer Kunstfigur: Auster selbst. Der Körper der Frauen diene als Aufzeichnungsmöglichkeit. »Nicht überraschend«, lautet ihr abgeklärtes Fazit. Sina nimmt die Diesseitsauffassung Heines als einen Anknüpfungspunkt an die Barocklyrik wahr. Diesen erkennt Meyer-Gosau nicht. Sie bemerkt, dass er stattdessen den Lesenden in »happyness« versetze.
Beeindruckt ist Meyer-Gosau von dem »ungeheuren Gestus« des ersteren Texts, den sich heute niemand mehr trauen würde, schließlich karikiere er sich damit fast selbst. Indem er Hanno Buddenbrooks darin einen Strich unter den Familienstammbaum zeichnen lässt, verweise er aber nicht nur auf sein frühes Werk, sondern auch auf sich selbst als letzten Klassiker in goethescher Tradition. Sina empfindet das als künstlerisch produktive Eitelkeit. »Spannend« sei im Gegensatz dazu, wie Goethe Werther von einer literarischen Figur zu einem quasi realen Gesprächspartner erhebe, womit er ihn von den Toten auferstehen ließe. Beide Texte hätten das Ziel, sich selbst der Zeit zu entheben und ihren Verfassern einen exponierten Platz in der deutschen Literaturgeschichte zu sichern.
Als Antwort auf Thomas Manns Selbstdarstellung als »Zuendebringer« wird der Text ein Rosenhauch aus Friederike Mayröckers Gedichtband études verlesen, der durch Impressionen, Wünsche, Kommentare und Selbstbeschreibungen kekennzeichnet ist. »Bin Underdog«, »unerheblich« schreibt sie beispielsweise knapp.
AbschließendMit Nachdruck stellt Meyer-Gosau fest, dass nach Thomas Mann noch sehr viel gekommen sei. Heute würde außerdem nichts mehr fertig werden – aber es müsse auch nichts mehr fertig werden, denn der Druck, Kunst zu machen, falle weg. Mayröckers Poetik sei ein Beispiel dafür. Statt der eitlen Selbstinszenierung für die Nachwelt schreibe sie sich mit Zeilen wie »Freue mich auf’s Engelwerden« aus dem Leben heraus. Das von Suhrkamp gewählte Label »Alterswerk« für die études, kritisiert Sina, assoziiert er mit der Bezeichnung doch etwas Radikales, auf das Biologische Verweisendes. Meyer-Gosau widerspricht. Sie versteht darunter die Aussicht auf weiteres Schreiben und vor allem den Verweis darauf, dass das Werk noch nicht vollendet sei.
Zufrieden zieht Sina Resümee über die abendlichen Erkenntnisse. Elemente des Spätwerks seien: Eine ironische Selbstdarstellung, die Frage nach dem bisherigen Tun und der Ausblick auf das, was folgt. Mit dem Abspielen von Leonard Cohens Song Going Home gibt Sina auch einen persönlichen Ausblick, da die wissenschaftliche Analyse der Eigenheiten von popkulturellen Spätwerken noch vor ihm liege.
»I love to speak with Leonard«, singt Cohen sich feierlich selbst an. Im Abstreifen von Reue und weltlichen Künstlerbedürfnissen beschreibt er mit dem Liedtext den Vorsatz des Nachhausegehens »without my sorrow«, »to where it’s better«. Es ist ein jenseitsbejahender Abschied, ins Leben hinaus.