»Vorlesung, bitte nicht stören!« prangte ein handbeschriebenes Blatt Papier am Türrahmen des Sechs Millionen Dollar Clubs, in dem die Lyrikerin und Verlegerin Daniela Seel am 07. Juli aus ihrem Gedichtband ich kann diese stelle nicht wiederfinden las. Und dieser unfreiwillige Bezug zum akademischen Betrieb passte in unterschiedlicher Hinsicht bestens zum Programm.
Von Nikola Christine Müller
Organisiert wurde die Veranstaltung von dem ominös auftretenden dptkollektiv, vagen Informationen nach ein Zusammenschluss junger Leute, die sich aus Göttinger Studienzeiten kennen. Gut 20 Zuhörer, beinahe ausschließlich aus studentischem Umfeld, haben es sich in den Couch-Ecken der Kneipe gemütlich gemacht, warmes Licht, rote Samttapeten. Seel sitzt dabei, mit Oversize-Jacket, Hut und silbernen Stiefeln, tauscht sich mit einer Gruppe Studierender aus, für die sie das Wochenende über einen Workshop an der Uni gegeben hat. Berufsperspektiven im Literaturbetrieb war das Thema – und genau dieses Feld scheint Seel in gewisser Weise zum Mittelpunkt ihres Schaffens erhoben zu haben. Sie ist sich dabei der vermeintlich schwierigen Zweiteilung ihres Wirkens sehr bewusst: »Poesie als Lebensform« lautet das Motto des Literaturverlages kookbooks, den Seel 2003 zusammen mit dem Graphiker Andreas Toepfer gründete.
»Gegenwartslyrik, bitte, da ist ja echt kein Blumentopf zu holen«, leitet sie hier ihre Lesung ein. Seel ist trotzdem eine Inkarnation der gelungenen Verquickung von Künstlertum und Kulturarbeit, in beiden Bereichen mehrfach ausgezeichnet, eine Eier legende Wollmilchsau: Sie kennt beide Seiten bestens und scheint sich auch beiderseits beheimatet zu fühlen. Ihr Gedichtband fasst das schön zusammen, erschien er in einem weiteren Sinne self-published bei kookbooks, nach Dennis Scheck die »feinste Adresse für deutsche Dichter«.
An die klassische Idee eines festen Berufsbildes glaubt Seel nicht, dafür aber umso mehr an die Notwendigkeit, das zu tun, wozu man sich berufen fühlt; dabei wird an dieser Stelle dann doch auch klar, wie besonders schwer es bei aller Liebe ist, heute gerade mit Lyrik sein täglich Brot verdienen zu wollen: die Anmoderation durch das dptkollektiv endet so auch mit der – durchaus erfolgreichen – Bitte an die Gäste, Seels Buch vor Ort zu kaufen, »damit sich das hier richtig lohnt!«.
Des Wortes Klang als Bestandteil der KunstUnd dann liest sie: aus ihrem ersten Lyrikband und neuere Texte, ohne jegliche Stolperer, mit Gedanken verloren-träumerischer Vorlesestimme, häufig fragend, immer pointiert, dabei stets weiter drängend, in einer rasanten Geschwindigkeit, die augenblicklich den Wunsch erweckt, die Texte weitere Male zu lesen, sie in Ruhe erneut nachzuvollziehen. Den Hauch und das harte Anlauten der Konsonanten hat sie für ihre Texte perfektioniert – häufig hat Seel in Interviews verlauten lassen, wie wichtig für sie auch der Klang des genutzten Begriffs ist und somit konstatiert, dass die Lesung der Gedichte integrativer Bestandteil ihrer Kunst ist.
Ein Geländer, das man in der Tasche mit sich tragen kann, das wünscht sich Seel, und Gedichte könnten diese Funktion übernehmen, Orientierung und Begleitung geben. Das führt sie innerhalb der Lesung in ihrem Essay Gedichte lesen, ihrer gattungstheoretischen Selbsterklärung, aus. Die beinhaltet viele Fragen, stellt die These eines »Erzählen ohne eigentlich zu erzählen« als eigene Qualität der Lyrik auf, das einen »Zusammenhang über die Sprache hinaus« erlaube – ein Phänomen, das Seel in der Prosa vergeblich sucht. Gedichte seien »Gewebe mit gleitenden Bezügen«, die den Rezipienten zum Mitwirken geradezu zwängen, um einen neuen Blick auf Alltägliches zu ermöglichen, über Sprache Erkenntnis zu stiften. Die höchst subjektive Abstraktion, die Dichtung bietet, wird in Seels Poesie, häufig ohne Nennung eines Ich paradebeispielhaft ausgestellt, und so zum Ausgangspunkt für ein eigenes Gefühls- und Gedankenkonstrukt.
Wichtigstes inhaltliches Element der Lyrik Seels sind der, meist menschliche, Körper und seine Präsenz und Konstituierung im Raum. Die Dichterin baut starke sinnliche Wahrnehmungen einer bildreichen Stofflichkeit auf, die den Zuhörern ein intensives eigenes Erleben ermöglichen, von einer Empfindung, die dabei doch »nirgendwo mehr existiert als hier im Gedicht«. Im Mittelpunkt stehen das Sehen einerseits und das Fühlen von Stoffen und Material in einem räumlichen Zustand andererseits, »wo licht uns umschließt/wie kleidung, die uns erst wirklich macht./ nein, streichen sie das. licht umfließt//körper nicht. sie stoßen es ab«.
Die Kleidung spielt dabei eine große Rolle, zeugt von Intimität oder Distanz; Seel beginnt die Lesung mit den Versen »ich habe mir ihren körper dann einfach/ umgebunden wie eine schürze«, die auch den Buchrücken des Gedichtbandes schmücken, in Textform und von Toepfer illustrativ interpretiert. Diese Beziehung von Körperlichem ist es, die Seel auch in ihrer Sprache, dem Verhalten der Wörter zueinander zum Ausdruck bringt, in »abstoßung. kippeln. tasten. kontakt.«. An mehreren Texten werden diese Verbindungen zwischen inhaltlicher und stilistischer Ebene metatheoretisch deutlich, so »wenn der raum des gedichts kein auge hat,/ das auf ein außen sieht, nur bewegung// im körper des autors, welcher der leser ist« – in diesen Versen wird schließlich auch wieder der dritter Bereich der Kommunikation zwischen Subjekten reflektiert, den Seel so beeindruckend beherrscht: den zwischen Autorin, Text und Leser. Der Kreis schließt sich, so wie der Abend rund war.