In der »KiWi-Musikbibliothek« schreiben Autor*innen über ihre Lieblingsbands und bleiben dabei strikt anekdotisch. Anstatt in Banalitäten zu versinken, geht das Konzept überwiegend auf und bringt frischen Wind in den muffigen Markt für Bandbiographien, besonders wenn die Bands etwas aus dem Fokus geraten.
Thees Uhlmann: Die Toten Hosen Armee der Gewinner
Von Tanita Kraaz
Truth be told: Es gibt genug mittelalte Männer aus der bundesdeutschen Provinz, die ihre musikalische Initiation niederschreiben und publizieren durften. Es braucht kein weiteres Spießpunkmemoir nach Schema F. Trotzdem macht es sich die KiWi-Musikbibliothek zum Auftrag, Autor*innen »radikal subjektive Liebeserklärungen« an ihre Lieblingsmusik schreiben zu lassen und scheut sich dabei sehenden Auges vor vorhersehbaren Konstellationen wie Thees Uhlmann und den Toten Hosen nicht: 1988, als er die 9F des Hemmoorer Gymnasiums besuchte, haben seine eher strengen Eltern ihm erlaubt, mit einer Gruppe weiterer Schüler*innen zum Hosen-
Zum Glück folgen auf diese 38 Seiten noch weitere 139, die – das soll hier nicht unter den Tisch fallen – für stolzverschämte Hosen-Fans fesselnd sind (kluge Songanalyen und der echt grandiose, unfreiwillig(?) komische, na jedenfalls ambivalente Versuch, Band-Aid-30 zu beschreiben). Dieses Volumen erlaubt Thees Uhlmann aber vor allem, sein klares Konzept umzusetzen: Seine Punkrockerinnerungen finden ihren Rahmen jeweils in der Küche seiner »quadratmeterstarken Wohnung« mit »Holzfußboden aus geschützten Tropenhölzern« und dennoch kann er das notorisch Sympathische nicht abschütteln. Mit dieser zwanghaften Herzenswärme gelingt es ihm, seine markenaffine Spießpunkaporie glaubwürdig zu verkaufen: »Und so endeten die Pfandmarken [der auf Konzerten verlorenen Becher] in der kleinen Tasche meiner 501, um damit Einkaufswagen aus ihrer Kettengeiselhaft vor dem Edeka auszulösen, nur um sie dann später genau da wieder einzupfanden.« Uhlmann beschreibt die Belanglosigkeit, die auf den nachhaltig ertränkten Revolutionsdurst der Jugend folgt, und truth be told: Beschreibt er damit nicht auch Die Toten Hosen auf den Punkt genau?
Tino Hanekamp: Nick CavePush The Sky Away
Von Oke-Lukas Möller
Nachdem vor acht Jahren sein Debütroman So was von da (KiWi) erschien, meldet sich Tino Hanekamp nun mit einem kurzweiligen Reisebericht aus dem mexikanischen Exil zurück. Inmitten einer mittelschweren Schreibkrise beschließt er, eine Liebeserklärung an Nick Cave zu verfassen, und begibt sich gemeinsam mit seiner Liebsten Ixtzel auf einen Roadtrip zu einem Meet and Greet mit seinem Idol. Schnell stellt sich heraus, dass Ixtzel nur rudimentäre Kenntnisse von Caves Schaffen hat. Dies ist dem Erzähler
Ixtzel bleibt jedoch skeptisch und unterbricht die leidenschaftlichen Ausführungen laufend mit beißenden Kommentaren, die der Verklärung Einhalt gebieten. Zu Caves striktem Arbeitsethos, auf den Hanekamp immer wieder neidvoll zurückkommt, bemerkt sie lakonisch: »Ist doch der Ex-Junkie-Klassiker: Arbeit als Ersatzdroge.« Solche Einwürfe verleihen den Lobeshymnen ein Korrektiv, das vielen Monographien über Musiker*innen guttäte.
Die Rahmenhandlung ist auch aus einem anderen Grund gelungen: Die Dissonanz zwischen unvereinbaren Motiven hat Cave selbst als Antrieb seines Songwritings bezeichnet. Der Alltag in Mexiko ist durchzogen von solchen Antagonismen. Ixtzel bemerkt: »Tod und Blumen, das ist Mexiko« und der Erzähler ergänzt: »[Z]wischen den Gegenpolen brennt es, lebt es, wie bei Cave. Schönklang und Lärm, Sehnsucht und Wut, Schuld und Sühne, Liebe und Tod«. Geschickt nutzt Hanekamp das Setting seines Buches, um Caves Schreibverfahren und Themen zu illustrieren.
In der Widersprüchlichkeit des erzählten Mexikos scheint dabei immer wieder ein »ewige[r] Willen zum Weiter« durch. Caves neuere Alben zeugen ebenfalls von einem solchen Willen: Nachdem sein Sohn Arthur tragisch verunglückte, riss Cave die Mauern aus Ironie und Sarkasmus, die er im Laufe seiner Karriere sorgfältig um sich herum errichtet hatte, ein. Seine Bereitschaft, die Trauer nach außen zu kehren und zu einem Bestandteil seiner Musik zu machen, stellt einen Wendepunkt seines künstlerischen Schaffens dar. Tino Hanekamp gelingt es, diese bemerkenswerte Wandlung einfühlsam nachzuzeichnen. Die Schreibkrise ist überwunden.
Sophie Passmann: Frank OceanDer Soundtrack eines Ying und Yangs
Von Laura Theismann
Für Sophie Passmann ist das Album Blonde von Frank Ocean der Soundtrack einer großen Lebenskrise. Mit Anfang zwanzig war ihr Alltag von manisch-depressiven Höhen und Tiefen geprägt, ihrem »Ying und Yang«, wie die Autorin sie auch umschreibt. Jedes Kapitel ist nach einem Song des Albums
Im ersten Kapitel beschreibt Passmann eine schwere depressive Phase, in der sie vollkommen antriebslos im Bett liegt. Als ihr Spotify die Veröffentlichung von Blonde ankündigt, ist dies seit Wochen das Erste, das sie dazu bewegt, aufzustehen. Bereits der erste Song »Nikes« begeistert Passmann. In ihm kritisiert Ocean den konsumorientierten Hedonismus moderner Gesellschaften. Für die Autorin stellt dies die Prämisse für das gesamte Album dar: »Frank Ocean hat diese Welt verstanden, er will nur kein Teil mehr davon sein. Großartig, völlig verständlich, bis heute mein einziges Motiv«, was mit Blick auf die folgenden Songs als eine treffende Beschreibung von Blonde erscheint. Heute ist Oceans Album für Sophie Passmann die »Filmmusik zu ihrem damaligen Unglück«, wobei jeder Song eine Art Zeitkapsel auf ihrem Weg zur Heilung darstellt.
Der Roman lässt sich somit als eine Liebeserklärung an das musikalische Genie Frank Ocean und an Blonde beschreiben, aber auch, oder vor allem, als die Geschichte des »Ying und Yang[s]« in Sophie Passmanns Leben. Obwohl psychische Erkrankungen inzwischen immer mehr in den öffentlichen Diskurs gelangen, gibt es recht wenige Autor*innen, die derart offen über ihre eigene Erkrankung schreiben. Umso wichtiger erscheint es, dass Passmann mit Frank Ocean diese Lücke nun schließt und damit die Stigmatisierung rund um das Thema durchbricht. Der Roman bietet einen intensiven Einblick in die Gefühlswelt der Autorin, in der sie beinahe alle Mauern emotionaler Distanz durchbricht und ihre Leser*innen auf eine Zeitreise in ihre Vergangenheit mitnimmt.
Klaus Modick: Leonard Cohen Too much information
Von Lisa Marie Müller
Weder einen Essay noch einen wissenschaftlichen Zugang hat sich Klaus Modick für seine Hommage an Leonard Cohen ausgesucht. Er ist der erste Autor, der für die KiWi Musikbibliothek eine größtenteils fiktionale Annäherung gewählt und einen kurzen Roman geschrieben hat. Im Podcast zum Buch (ja, sowas gibt es) beschreibt er ihn als eine »semi-biografische Geschichte«, im Mittelpunkt steht der zunächst 18-jährige Lukas. Neben Sex interessiert ihn ein Cohen-Song, den er im Radio hört, ohne sich den Interpreten zu merken. Zu beidem – zum Sex und zur Information um den Interpreten – kommt er im weiteren Verlauf. Zehn Jahre später sucht er sein Glück in Griechenland (wie Cohen auf der Insel Hydra), im Gepäck eine
Literatur und Musik sind bei Cohen bekanntermaßen eng verknüpft. Modick probiert das auch und scheitert leider in weiten Teilen, die weder poetisch wertvoll noch sonst besonders lesenswert sind. Für Cohens Musik findet er an wenigen Stellen so passende Worte wie zu »Suzanne«: »Sie kam im Gewand einer einfachen, ebenso eingängigen wie eindringlichen Melodie, begleitet von einer akustischen Gitarre, vorgetragen von einer Baritonstimme, sonor, hypnotisch, sinnlich«. Einige schöne Formulierungen fallen auf (»kontaktförderndes Zwielicht«), jedoch fehlen in vielen Szenen weiter ausformulierte Hinweise auf (die Musik oder Literatur von) Cohen. Außerordentlich seltsam muten die pubertär wiedergegebenen Sexszenen und expliziten Beschreibungen von Lukas’ Erektionen an. Zu dieser Stumpfheit gesellt sich die Reproduktion rassistischer Sprache auf einer der ersten Seiten. Lukas’ Eltern beschreiben die Lieblingsmusik ihres Sohnes abfällig als N-Wort-Musik. Auch wenn er selbst sich positiv mit der beschriebenen Musik identifiziert, kommt dennoch bei der Leserin die diskriminierende Bedeutung an, und das wäre an dieser Stelle nicht nötig. Wer über sowas hinwegsehen kann, dem*der wird der Roman vielleicht gerecht. Allen anderen sei das von Adam Cohen posthum veröffentlichte Album seines Vaters Thanks for the Dance ans Herz gelegt.
Lady Bitch Ray: MadonnaBitches & Queens gegen das Patriarchat
Von Theresa Croll
Es liefe etwas grundsätzlich falsch, wenn Lady Bitch Ray auf ihren schamlos aufmüpfigen und beharrlich zornigen Ton verzichten würde. Um abseits von diplomatischen Versuchen Kluften zu überbrücken, ist ein solcher Schreibstil in der feministischen Literatur unabdingbar geworden: »Fuck off and die«,
Dass sie Akademikerin ist, merkt man an der Art, wie sie Beobachtungen kontextualisiert. Aber nicht nur ihre akademische Bildung verleiht ihr Expertise; sie ist, was man »book-« und »street-smart« nennt: Sie kennt das Leben als Mädchen mit Migrationshintergrund in Bremen-Gröpelingen und damit vor allem die eigene Diskriminierung. Privilegien bekam Lady Bitch Ray nie geschenkt und lernte schon früh, sich in den Vordergrund zu kämpfen. Mit freimütigen Anekdoten spricht Lady Bitch Ray tiefgreifende Probleme an: Das Bestärken patriarchischer Strukturen durch Frauen, die andere Frauen ständig bewerten, die kaum zu überwindenden Hindernisse für Frauen in cis männlich dominierten Industrien, das Marginalisieren von Frauen, die losgelöst von Konventionen selbst über ihre Körper walten, und ach so vieles mehr. Sie erzählt von ihrem Werdegang im deutschen Hip-Hop-Business und schafft es, ihn gekonnt mit Madonna-Momenten zu unterlegen. Mit dem Stein der Unangepasstheit, den Madonna in den 80er Jahren in der Musikindustrie ins Rollen gebracht hat, wirft Lady Bitch Ray heute die Fenster des Patriarchats ein.
Madonna ist in erster Linie ein Buch über Lady Bitch Ray, die ganz nebenbei ihre Bewunderung für die »Queen of Pop« teilt, und das ist völlig in Ordnung so. Es handelt sich, trotz aller Anhimmeleien, nicht um eine Lobeshymne auf Madonna als Vorbild, sondern um eine kritische Auseinandersetzung mit einem Idol, in dessen Vorkampf für (sexuelle) Selbstbestimmung nicht selten strukturelle, diskriminierende Verhaltensmuster wiederzufinden waren. Mit Nachdruck erklärt Lady Bitch Ray, wie sich Madonna nicht nur beständig »Schwarze Kultur« aneignete, sondern auch, wie sie erst dann zur Feministin wurde, als die Trendwelle sie einholte.
Ein unvorhergesehenes Aufeinandertreffen von – Achtung – zwei »Skandalnudeln«: Die eine war wegweisend für ganze Generationen zügelloser Pop-Püppchen im prüden Amerika, die andere ist genau die Kombination aus impulsiver Rapperin und eloquenter Promovendin, die wir gebraucht haben.