In seinem letzten zu Lebzeiten veröffentlichten Roman schickt der chilenische Schriftsteller Roberto Bolaño ein elternloses Geschwisterpaar in den Überlebenskampf. Je nagender die innere Leere, desto exaltierter die äußere Ablenkung. Ein Plädoyer für die offensive Defensive.
Von Florian Pahlke
»Irgendwer hat immer die Augen zu. Wenn der eine sieht, dann der andere nicht«, weiß Bianca, die Erzählerin des Lumpenromans, zu berichten und gibt damit die Richtung des Romans vor, der den Leser unvorbereitet in die Handlung entlässt und dabei in seiner Kürze mehr an eine Novelle erinnert. Typisch für diese Gattung gestaltet sich die Handlung auch sehr einfach: Im Vordergrund bleibt der Bruch zwischen Ordnung und Unordnung stehen. Dabei dringt der Leser in diffuse Zwischenräume von fehlender Nähe vor, die sich immer wieder als Handlungskontexte zeigen und dabei doch von den Handlungen selber unberührt bleiben.
Die jugendliche Italienerin Bianca ist Vollwaise und lebt nach dem tödlichen Autounfall ihrer Eltern alleine mit ihrem Bruder in Rom. Sich selbst überlassen versuchen die Geschwister ihren Alltag zu regeln, der sich jedoch mehr und mehr in trostlos wirkende Fernsehabende und inhaltsarme Diskussionen über Pornofilme verwandelt. Schließlich gehen beide nicht mehr zur Schule und versuchen ihre Zukunft durch Nebenjobs aufzubessern – Bianca arbeitet beim Friseur, ihr Bruder als Putzkraft im Fitnessstudio. Das Geld als kurzfristige Hoffnung hat die Bildung, welche die Schule mit sich brächte, längst abgelöst. Doch Biancas Gedanken bleiben im Nirgendwo hängen und reichen nicht bis in die Zukunft. So lässt sie es auch klaglos zu, als zwei als ‚Freunde‘ bezeichnete Arbeitskollegen ihres Bruders ins Elternhaus mit einziehen. Viel erfährt man nicht über sie, sie bleiben einfach »der Bologneser und Libyer« und Bianca gibt sich ihnen nachts abwechselnd hin, gleichgültig, wer von ihnen zur jeweiligen Zeit mit ihr das Bett teilt. Die einzige Sorge bleibt das tägliche Leben, vor allem dann, als ihr Bruder den Job verliert und undurchsichtigen Tätigkeiten mit seinen zwei Freunden nachgeht.
Bolaño versteht es, diese Trübsal und den gedanklichen Leerlauf auf nur wenigen Seiten so nuanciert zu beschreiben, dass Bianca als Erzählerin ein Profil erhält, welches das schmutzige Gesicht der heutigen Gesellschaft zeigt, ohne sich in überflüssiges Pathos zu verlieren. Dabei bringt er immer wieder Anspielungen an Weltliteratur, angefangen beim Namen Bianca, die in Shakespeares Othello die Vereinigung von Treulosigkeit und Treue symbolisiert, über märchenhafte Arrangements, die an Hänsel und Gretel erinnern. Bolaños Bianca jedoch ist mehr als nur eine Zusammenstellung von Intertexten; sie ist die moderne Version einer Hoffnung.
Doch eine echte Alternative zu ihrem Leben tut sich nicht auf und im Laufe der Zeit entwickelt sie einen Plan, um wieder in einen ungestörten Alltag entfliehen zu können, der zwar keinen Trost verspricht, aber ebenso wenig unerfüllbare Hoffnungen speist. Sie fasst den Entschluss, die beiden Freunde ihres Bruders loszuwerden. Eventuell daraus resultierendes Leid der beiden ist ihr dabei nicht etwa egal, sondern nicht einmal bewusst. Es geht ihr nur darum, das Leid, was sie und ihr Bruder erfahren mussten, möglichst schnell wieder im Alltag zu verstreuen. Die Gedanken darüber sind bei Bolaño nicht groß ausformuliert und hinterlassen vielmehr eine Leerstelle, die Bianca nicht auszufüllen weiß; Leid ist nur das, was sie unmittelbar erfahren hat und nichts darüber hinaus.
Aufgrund dessen schickt sie den Bologneser und den Libyer zu Maciste, um den Tresor zu finden, und befördert damit beide aus ihrem Leben. Ob das gelingt, erfährt der Leser nicht, dafür aber, dass Bianca diese Rückkehr in ihren Alltag zu einer Reise in ein neues Leben auserkoren hat; Bolaño hingegen zeigt uns im Lumpenroman die ungebrochene Kraft einer Erzählerin, die in einem unwürdigen Leben noch immer an eine Art von Würde glaubt.