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Puzzeln in Einsamkeit

Carambole, der zweite Streich von Jens Steiner, ist, wie der Untertitel schon verkündet, ein Roman in zwölf Runden. Sie führen den Leser in die Welt eines beschaulichen schweizerischen Dörfchens im Sommer ein. Julia Bartels hat den mit dem Schweizer Buchpreis bedachten Roman für LitLog gelesen.

Von Julia Bartels

Carambole, oder auch Carrom, ist ein Brettspiel mit indischen Wurzeln. Eine Art Billard auf einem viereckigen Brett, dessen Ziel es ist, die eigenen Spielsteine mit Hilfe eines Schießsteins in den Löchern der Ecken zu versenken. Die zwölf Runden lassen an Spiel und Sport denken, sodass es wenig verwundert, dass auch der Roman selbst sich wie ein Spiel verhält – ein Puzzlespiel.

In jedem der zwölf Kapitel erfährt der Leser mehr über eine Person und ihre Lebenswirklichkeit, oft aus der Ich-Perspektive. Beschrieben wird das Leben in einem verschlafenen Dorf, das vom demographischen Wandel und Verfall langsam aber sicher heimgesucht wird. Es geht um Familiengeschichten, Eheszenen und das Aufwachsen von Jugendlichen in diesem Umfeld. Persönliches Leid und Unglück, Freundschaft und Zukunftspläne werden angedeutet, verknüpft und kommentiert. Selten nehmen die einzelnen Figuren Kontakt zueinander auf, vielmehr schildert jeder das Leben aus seiner Sicht, eher nebensächlich werden andere Personen erwähnt, die der Leser nur mit einiger Puzzlearbeit identifizieren und einordnen kann.

Besonderes im Allgemeinen

Jens Steiner erhielt für das Manuskript von Carambole 2012 die Auszeichnung »Das zweite Buch« der Marianne und Curt Dienemann-Stiftung, Carambole stand 2013 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises und konnte im gleichen Jahr den Schweizer Buchpreis gewinnen. Und das völlig zurecht, denn was dieser Roman auf knapp 220 Seiten leistet, ist bemerkenswert. Mit eindringlichem Stil kommt jede Figur in ihrer eigenen Erzählweise zu Wort. Jedes Kapitel eröffnet eine neue Gedankenwelt und führt gleichzeitig die Geschichte voran. Die ist freilich schnell erzählt: Ein Dorf, kurz vor den Sommerferien. Die Hitze hat die Bewohner fest im Griff und doch tun alle das, was sie immer tun, zumindest auf den ersten Blick. Die Schilderung von gleichförmiger Alltäglichkeit lässt die darauf folgenden Geschehnisse stärker hervortreten: Die Zeugnisverleihung in der Schule, die Explosion eines Gastanks auf einem Fabrikgelände, ein ungeklärter Todesfall. Jedes dieser Ereignisse betrifft die Dorfbewohner in verschiedenem Maße, nicht jeder von ihnen interessiert sich dafür. Gerade dieses Desinteresse, die Einsamkeit des Individuums, auch wenn es von anderen Menschen umgeben ist, ist prägend für die Atmosphäre. Der Leser erfährt erst nach und nach was passiert ist, oftmals in Rückschau, muss sich selbst zusammenpuzzeln, was passiert sein könnte, weil nur knapp berichtet wird, überraschende Schwerpunkte gesetzt oder ganz unterschiedliche Bilder der Situation gezeichnet werden.

Buch-Info


Jens Steiner
Carambole
Roman in zwölf Runden
Dörlemann Verlag: Zürich,
224 Seiten, 19,90€
E-Book 14,99€

 
 
Jens Steiner erschafft gekonnt eine Welt, in der jeder einzeln allein für sich steht. Konfrontiert mit der Nichtigkeit seiner alltäglichen Existenz, mit der Monotonie seines Seins, suchen die Protagonisten einen Weg durch dieses Elend, das sie ihr Leben nennen. Jeder muss seine persönliche Lösung finden, um mit dem trüben Alltag, gescheiterten Beziehungen, kaputten Familienleben, Krankheit, Einsamkeit und Tod zurechtzukommen.

Unsagbares in Worte

Neben dem gelähmten Rollstuhlfahrer, der mit den Fehlern seiner Vergangenheit kämpft, erscheint das Schicksal der drei Jungen, die mit den Wirrungen der Pubertät zu tun haben, leicht erträglich – doch der Teufel steckt im Detail. Jeder hat seine eigene Last zu tragen, und leidet zusehends unter der Schwere der Worte, die er nicht mitteilen kann. Der Leser verfolgt die unterschiedlichen Selbstheilungsversuche der Dorfbewohner: Einer flieht, ein zweiter versucht stoisch weiter zu machen, ein dritter gräbt ein Loch in seinem Garten. Am Ende scheint der Weg aus dem Unglück der Einsamkeit die Freundschaft zu sein, die es ermöglicht, sich mit der Vergangenheit auszusöhnen und die Gegenwart zu akzeptieren. Die Freundschaft macht es möglich, mit sich ins Reine zu kommen und glücklich zu sein und die Angst vor der Zukunft zu verlieren: »Das ist es, das war‘s. Danach kann die Welt von mir aus in die Luft fliegen«, formuliert Schorsch, der diese Freundschaft gefunden hat, seine Gefühle.

Vieles in Jens Steiners überragendem Roman bleibt ungesagt, geheim, vieles wird nicht aufgelöst und es kommt auch nicht zu einem erlösenden Happy End. Dennoch lässt die Geschichte seinen Leser nicht unbefriedigt zurück. Jeder Querverweis macht das Gesamtbild deutlicher, jedes Puzzlestück bringt mehr Klarheit. Und wenn am Ende dann doch nicht alles erklärt wird, ist dies nur folgerichtig, denn keine der erzählenden Figuren hätte die Möglichkeit einen allumfassenden Abschluss zu geben. Die plastischen Schilderungen und die lebendig wirkenden Figuren entschädigen für alles Rätselraten. Jens Steiner ist eine natürliche und ehrliche Geschichte gelungen, deren menschliche Schicksale keinen kalt lassen werden. Mitten in der Lektüre sieht auch der Leser selbst sich mit den schwer lastenden Fragen konfrontiert, die den Roman bestimmen: Was ist der Sinn meiner Existenz, wie kann ich in Worte fassen, was nicht sagbar ist und wie löse ich mich aus meiner Einsamkeit?



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 Autor*in:
 Veröffentlicht am 18. Februar 2014
 Kategorie: Belletristik
 Carrom tables at Shakori Hills Grassroots festival von nabarund via flickr
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