Ein Lese-Abend im vergangenen Herbst in der Buchhandlung calvör in Göttingen: Zwei junge Frauen teilen sich die Bühne und blicken etwas verlegen, aber selbstbewusst ins Publikum. Gelesen wird aus Rosenwinkel, dem Debütroman von Theatermacherin Luise Rist: In einer deutschen Kleinstadt, die an Göttingen erinnert, lernen sich zwei junge Mädchen kennen, Frida und Anita. Sie werden Freundinnen. Kurz darauf wird Anita, Roma und aus dem Kosovo stammend, in Deutschland aufgewachsen, mit ihrer Familie abgeschoben. Verständnislos über die Ungerechtigkeit reist Frida der Freundin in den Kosovo hinterher und begibt sich mithilfe des Journalisten »Stammmeier« auf die Suche nach der Freundin und damit auch auf Entdeckungsreise in die Geschichte eines zerrissenen Landes.
Aus dem Buch lesen die Autorin Luise Rist und die 15-jährige Anita Osmani. Die Figuren im Buch sind fiktiv, ebenso die Handlung. Der Roman wurde von Anitas echter Geschichte inspiriert. Zum Zeitpunkt der Lesung im November 2015 drohte Anita, die nie im Kosovo gewesen ist, die Abschiebung aus Göttingen. Seit Februar ist sie verschwunden. Wir wissen bis heute nicht, wo sie ist. Die Fiktion des Rosenwinkels ist auf ungeahnte Weise Realität geworden. Marisa Rohrbeck und Annie Rutherford sprechen über das Romanhafte, das Schandhafte und künstlerisch Wertvolle von Rosenwinkel und lassen dabei die Lesung Revue passieren.
Auftritt Annie und Marisa auf dem Sofa, zwei Tassen Kaffee und zwei Bäuche, gefüllt mit Kartoffelpuffern.
Marisa: Reden wir über die Erzählerin. Wer ist Frida?
Annie: Wer ist Frida? Meinst du metaphorisch? Oder was wir eigentlich über die Figur wissen?
Marisa: Irgendwo dazwischen. Worüber ich zu Beginn des Textes gestolpert bin und was ich über das Buch hinweg gesucht habe, ist, dass die Protagonistin selbst sagt, »ich bin ja schon im Ausland« – als die Mutter einer Freundin sie fragt, ob sie nicht auch ins Ausland gehen wolle. Ich habe mich gefragt, was sie damit meint.
Annie: Ich hatte das so verstanden, dass Frida einfach sehr entfremdet ist in ihrem eigenen Leben und Umfeld. Schon in der Schule war sie offensichtlich immer Außenseiterin. Und dann spielt da wohl auch die Depression ihrer Mutter mit rein. Weil sie damit nicht zurecht kommt, verändert sich ihr ganzer Umgang mit anderen Menschen.
Marisa: Klar, ich sehe den Fremdheitsbezug darin, nur der Begriff vom Ausland ist sehr konkret für diese Idee. Obwohl darin dann auch schon die Frage steckt, wann man sich als Deutsche fühlt oder überhaupt einem Land, einer Nationalität zugehörig und wann nicht.
Annie: Ich fand beim Konzept des Romans wichtig, dass Frida Deutsche ist. Ganz interessant bei der Lesung war, dass es laut Luise kein Buch über die Roma sei: Es wurde nicht über sie, sondern mit ihnen geschrieben. Da sie mit der ja wirklich existierenden Roma-Familie, die in Göttingen lebte und abgeschoben werden sollte, ziemlich eng befreundet ist, ist das sehr nachvollziehbar. Aber auch für das Buch ist wichtig, dass es eigentlich Fridas Geschichte ist, nicht Anitas.
Marisa: Das stimmt. Ich habe mich beim Lesen auch gefragt: Wessen Geschichte ist es eigentlich? Das wurde ganz schön gelöst. Man könnte ja erst einmal vermuten, okay, es geht um das Thema Abschiebung, Frida wird wohl schnell zur Beobachterfigur und funktioniert als reine Kulisse, vor der das Thema aufgearbeitet wird. Aber das ist sie dann eben nicht.
Annie: Eigentlich wird sie durch die Beziehung zu Anita aus der Rolle gerissen. Überall ist sie ansonsten fremd und kann nur Beobachterin sein. Da ist es wichtig, dass wir es mit einer zweiseitigen, gleichrangigen Beziehung zu tun haben, also, dass es nie die Situation gibt ´Ich Deutsche helfe Dir, armem Roma-Kind´.
Marisa: Auf jeden Fall.
Annie: Es ist schon ein bisschen kurios, dass das Buch jetzt relevanter ist, als zu der Zeit, in der es geschrieben wurde, weil die Abschiebung der Roma seit der Zeit des großen Fluchtaufkommens in den vergangenen Monaten wirklich zum Problem geworden ist. Inwiefern ist das Buch dann auch ein Appell?
Marisa: Ich denke, die Apellfunktion ist sicherlich da, aber ich würde sie nicht in den Vordergrund stellen. Letztlich ist es erstmal ein Versuch, das
Annie: Das ist wirklich ein wichtiger Punkt.
Marisa: Gerade dann, wenn Dinge passieren, die für uns alltäglich und allgegenwärtig sind, wie die Nachrichten über Menschen, die abgeschoben werden. Wir wissen, dass das schlimm ist und wissen, dass das nicht passieren sollte, aber weiter als das kommen wir nicht, weil wir nicht aus unserer eigenen Realität herauskommen. Wir wissen nicht, was danach passiert, wohin diese Menschen gebracht werden, wie sie dann leben, welche Möglichkeiten sie haben und welche sie eben nicht haben.
Annie: [blättert im Buch] Dazu gab es eine gute Stelle im Buch, nicht speziell zur Abschiebung, sondern generell über diese Diskrepanz zwischen Betroffenen und nicht-Betroffenen. Da erzählt eine Frau aus Bosnien Frida, dass sie in Italien war und die Leute dort am Strand lagen und sich gesonnt haben und gleichzeitig herrschte in Bosnien Krieg, genau auf der anderen Seite des Meeres und dass Frida dann denkt, aber –
Marisa: … wie weit muss es denn weg sein, um nicht stets daran zu denken?
Annie: Genau, auf der einen Seite kann man es nicht glauben und auf der anderen Seite denkt man, gut, es herrscht im Moment irgendwo Krieg und trotzdem sitzen wir hier auf dem Sofa und trinken Kaffee. Weil man nicht anders kann. Und darin ist das Buch ganz gut, diese Sicht zu drehen und zu hinterfragen.
Marisa: Ja, indem es ja auch einfach nicht die Geschichte der Kriege an sich erzählt hat, sondern die Geschichte, die der Krieg ins Land geschrieben hat.
Annie: Was wirklich beeindruckend ist, sind die drei unterschiedlichen Anfänge vom Krieg, die drei verschiedene Menschen erzählen.2 Wobei klar wird, dass es eben nicht nur eine wahre Geschichte aus dem Geschichtsbuch gibt, sondern viele Versionen, die alle ihre Berechtigung haben.
Marisa: Was hast du zu der Figur des Fotojournalisten Stammeier3 gedacht? Hat er dich aufgeregt?
Annie: Als Figur fand ich ihn gut. Als Person würde er mich nerven.
Marisa: Ich war auch sehr genervt von ihm, weil er natürlich diese ätzende, rationale, sachliche Sicht hat, »wir können nicht allen helfen«, und man denkt sich, ich möchte schreien und ihn schütteln und sagen, »hör auf so rational zu sein, das ist alles furchtbar und man kann das nicht so distanziert betrachten«, aber natürlich braucht es diesen Blick auch, um das Ganze aus einer anderen Perspektive zu betrachten, und deswegen halte ich ihn für eine sehr sehr gute Figur.
Annie: Er tut eben so distanziert, aber indem er Fotoreportagen macht, ist er gleichzeitig einer der wenigen Menschen, die in der Geschichte etwas bewegen können. Kriegsreporter_innen haben eine unglaublich wichtige Funktion, sind aber gleichzeitig in einer moralisch komplexen Lage: Auf der einen Seite können sie durch das Fotografieren auf etwas aufmerksam machen, aber im selben Moment müssen sie die Menschen immer hinter sich lassen. Vielleicht muss man dann diese rationale Sicht haben.
Marisa: Er nimmt einem dann auch irgendwie die letzte Möglichkeit, zu handeln, indem er einfach sagt: Es gibt Millionen von Hilfsorganisationen und NGOs und die machen einen Haufen Arbeit und letztlich hat das kaum einen Effekt. An dem Punkt habe ich mich dann auch gefragt, wie diese Geschichte ausgehen soll. Wie soll Frida jemals damit fertig werden, dass sie in ihrer Situation so hilflos ist und nichts dagegen tun kann?
Annie: Könnte man dann sagen, dass das, was am Ende passiert, für sie auch ein Fluchtweg ist?
Marisa: [geht zum Fenster und zündet sich eine Zigarette an] Ein Fluchtweg? Inwiefern?
Annie: In dem Sinne, dass sie nicht wieder in ihr altes Leben zurückkehrt. Solange sie dableibt, wo sie in dem Moment ist, kann sie sich vielleicht irgendwie sagen, dass sie einen Unterschied macht oder dass sie zumindest etwas bezeugt.
Marisa: Sie kann dadurch eine Geschichte kreieren und davon erzählen, aber letztlich ist es ja keine Flucht, sondern nur ein temporäres Ignorieren des Problems.
Annie: Naja, ist das nicht eine Flucht?
Marisa: Ja okay, vielleicht hast du da Recht. Wieviel haben wir denn gelernt bei der Lektüre? Wir, für die ja das Buch nicht in erster Linie geschrieben ist, oder vielleicht doch, weil Luise ja selbst sagte, es sei ein All-Ager. Ist es ein All-Ager?
Annie: Also mir hat es Spaß gemacht. Klar, es gab Passagen, wo ich das Gefühl hatte, es wurde zu viel gesagt, womit Jugendliche vielleicht eher darüber hinweg lesen würden, aber es hat mir gefallen und ich würde es auf jeden Fall Freund_innen in meinem Alter oder auch älter empfehlen. Ich würde nicht sagen, dass es nur etwas für 15-Jährige ist. Klar, die Protagonistinnen sind Jugendliche aber letztlich ist es ein Buch über Freundschaft und das kann man immer lesen.
Marisa: Ich hab tatsächlich sehr viel gelernt und ich war Frida sehr oft dankbar, dass sie Fragen aufgeworfen hat, bei denen ich mir dachte, »okay, ich sollte das wissen«. Ich glaube, wenn überhaupt, dann kennt man Eckdaten vom Bosnienkrieg und ich war mir nie so richtig darüber im Klaren, was eigentlich mit den Menschen nach der Flucht passiert ist. Das stand ja auch auf keinem Lehrplan, war noch kein Geschichtsstoff. Und wir waren zu der Zeit selbst noch zu jung, um es zu verstehen.
Annie: Etwas, was mir verstehen geholfen hat und was ich sehr schön fand, war die Darstellung des kulturellen Alltags der Roma; zum Beispiel an der Stelle, als die Oma den Kaffeesatz liest, wovon Frida regelrecht verzaubert ist. Auch die Feste, also die Hochzeiten: Stammeier sagt, dass er neidisch ist. Er selbst mag keine Rituale, fühlt sich aber doch ausgeschlossen.
Marisa: [schaut sinnierend in ihre Kaffeetasse] Das hat, denk ich, ganz viel ausgemacht, dass der Kulturreichtum sichtbar wird. Gerade in Sachen Gemeinschaften fehlt Stammeier da offensichtlich etwas, was so sicherlich auch die deutsche Kultur ein Stück weit reflektiert.
Annie: [lacht] Das fand ich schon witzig, dass Frida nie auseinanderhalten kann, wer Tante, Onkel, Cousine, Cousin ist, weil die Verwandtschaftsverhältnisse so verschachtelt sind. Es ist tatsächlich in Roma-Gemeinschaften, aber auch zum Beispiel in ähnlichen Kulturen, wie die der Irish Travellers, so, dass alle so eng miteinander verbunden sind, dass die familiären Grenzen nicht mehr überschaubar sind. Im Kontrast dazu ist Fridas eigenes Zuhause, das Leben allein mit der Mutter, der Vater nahezu abwesend, ziemlich einsam. Diese Gegenüberstellung ist schon sehr liebevoll gemacht und stellt unsere westliche Kultur dann auch irgendwie bloß.