Impressum Disclaimer Über Litlog Links
SCHRIFTsteller und DIKTATuren

Am 4. Dezember 2012 fand an der Universität Tartu in der Abteilung für deutsche Philologie die internationale literaturwissenschaftliche Tagung SCHRIFTsteller und DIKTATuren statt, bei der Philologen aus Deutschland, Estland, Lettland und Finnland vorgetragen haben. Die Tagung wurde von Dr. Silke Pasewalck (Germanistik) und Dr. Liina Lukas (Komparatistik) organisiert und vom Baltisch-Deutschen Hochschulkontor in Riga finanziell unterstützt.

Von Kati Olt und Tiina Tupits (Studierende der Germanistik in Tartu) in Zusammenarbeit mit Dieter Neidlinger (Germanistik Tartu)

Literaturwissenschaftliche Totalitarismusforschung findet selten im interkulturellen Dialog statt. Die Tagung SCHRIFTsteller und DIKTATuren brachte nun LiteraturwissenschaftlerInnen aus Estland, Lettland und Deutschland miteinander ins Gespräch. Zeitlich wurde der Schwerpunkt auf das 20. Jahrhundert und damit auf den Nationalsozialismus und den Stalinismus gelegt. Ausgehend von der sozialpsychologischen Frage nach dem Verhalten des Menschen unter totalitären Bedingungen wolle man, so Silke Pasewalck in ihren einleitenden Bemerkungen, auf der Tagung den Akzent auf den Autor und sein Schreiben legen, woraus sich folgende Fragen ergeben: Wie verhalten sich Autoren und Autorinnen in totalitären Regimen und wie positionieren sie sich mit ihren Texten im kulturellen Feld? Welche Strategien und Rhetoriken sind ihren Texten eingeschrieben? Silke Pasewalck betonte überdies die komparatistische Ausrichtung der Tagung, auf der neben der deutschen und estnischen Literatur auch die lettische und mit Thomas Taterkas Vortrag zudem eine Stimme der italienischen und eine der russischen Literatur zu Wort komme. Liina Lukas skizzierte in ihren einleitenden Worten die Forschungen in Estland zur sozialistischen Diktatur aus den letzten Jahren und betonte ebenfalls die Relevanz eines komparatistischen Ansatzes.

Den Eröffnungsvortrag hielt Birgit Dahlke von der Humboldt Universität zu Berlin; sie sprach über Die »Untergrundliteratur« in der DDR? Was die Literatur- und Künstlerszene vom Prenzlauer Berg mit dem Fall der Mauer verlor. Birgit Dahlcke interpretierte die Gedichte »Rondeau Allemagne« von Barbara Köhler, »Wortfege« von Stefan Döring, »Georgs Sorgen um die Zukunft« von Jan Faktor und »Addition der Differenzen« von Andreas Koziol. Anhand dieser Texte illustrierte sie die Bedingungen des literarischen Feldes vor dem Mauerfall und deren Veränderungen nach 1989. Sehr luzide waren die Darlegungen zu heute noch wirksamen Konstruktionen als literarische Widerstandszirkel, deren retrospektive Stilisierung zu erfassen sie als eigenen Erkenntnisweg beschrieb.

Withold Bonner von der Universität Tampere sprach sodann über Krieg und Faschismus in Briefen, Tagebüchern und veröffentlichten Texten von DDR-Autoren aus den Jahren 1968/69, wobei er den Fokus auf die Rolle von Zensur und Selbstzensur (die sogenannte »Schere im Kopf«) legte. Bonner betonte auch, dass man stets konkret fragen müsse, um was für eine Diktatur es sich handele, was für Generationen da seien und in welcher Situation diese Generationen mit der Diktatur konfrontiert werden.

Eve Pormeister (Universität Tartu) widmete sich in ihrem Beitrag Aber die Frage begleitet mich: Wie lebt man in einer Diktatur? Christa Wolf – Hoffnungen und Enttäuschungen einer DDR-Autorin dem Werk der DDR-Autorin Christa Wolf und deren Reflexionen über das totalitäre System. Eve Pormeister sprach über Christa Wolfs Einstellungen und Emotionen im Angesicht eines totalitären Systems. Die Diktatur ließe die Menschen nicht schreiben, was und wie sie wirklich wollten, sondern nehme den Schriftstellern die Redefreiheit. Es herrsche Kontrolle und Überwachung der Sprache und des herrschenden Paradigmas. Man habe das Land geliebt, aber viele Schriftsteller sahen keine Alternative mehr als das Land zu verlassen – im fernen, anderen Land konnten sie schreiben, was sie wollten.

Der estnische Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Jaan Undusk (Estnische Akademie der Wissenschaften, Tallinn) gab den Tagungsteilnehmern einen Überblick über die sogenannte »sowjetestnische Literatur«, die von 1940 bis etwa 1990 im besetzten Estland und von estnischen Schriftstellern im Exil geschaffen wurde. Sind, so fragte der Literaturgeschichtsschreiber, die meisten der künstlerischen Hochleistungen dieser Zeit, die unter den Bedingungen des Exils oder im besetzten Estland geschaffen wurden (wo die Kunst unter politischem Druck stand) nur vor diesem Hintergrund zu bewerten? Man kategorisiere so leicht in die »richtige« und die »falsche« estnische Sprache. Texte in der »falschen« Sprache entstanden unter dem Diktat des totalitären Regimes. Unter estnischen Autoren gab es jedoch auch einige, die ernsthaft Stalin und Lenin verherrlichten, z. B. A. Jakobson und J.V. Barbarus. Die Autoren, die in Estland geblieben waren und den Personenkult öffentlich nicht befolgten, lebten in ständiger Angst vor Deportationen. Viele Werke wurden totgeschwiegen: Man schrieb entweder für die Schublade oder gar nicht. Es ging Undusk in erster Linie darum, diese auf scheinbar klaren Kategorien fußende Ansicht aufzubrechen: Ist Literatur, die politisch korrekt ist, automatisch gute Literatur und politisch diskreditierte automatisch schlechte? Er stellte die provokative Frage: Könnte nicht auch ein Lobgedicht über Stalin und Hitler unter ästhetischen Gesichtspunkten betrachtet und möglicherweise geschätzt werden?

Lauri Pilter (Universität Tartu) behandelte in seinem Vortrag den Roman Das blaue Tor von Bernard Kangro. Der estnische Schriftsteller und Lyriker Bernard Kangro musste 1944 ins Exil nach Schweden fliehen. Dort wurde er einer der wichtigsten estnischen Exilschriftsteller und Publizisten, dessen Werke zumeist im Selbstverlag erschienen. Das blaue Tor ist einer der frühesten Romane Kangros. Den Anstoß für diesen Roman gab das Aufeinandertreffen einer Gruppe von sowjetestnischen mit exilestnischen Autoren (u.a. Smuul, Vaarandi und Beekman) in Schweden. Dieses Treffen symbolisiert ein bedeutendes Ereignis – Exil und Heimatland wurden erstmalig einander gewahr. Das blaue Tor ist die Geschichte von zwei Männern, die an verschiedenen Ufern der Ostsee leben, interessanterweise aber denselben Namen tragen, gegen dasselbe System kämpfen und dieselbe Frau lieben. Über die Darstellung der Persönlichkeitsspaltung und das Motiv des Doppelgängers wird die komplexe Lage der estnischen Literatur in dieser Zeit in einem schlüssigen Bild gefasst. Kangro verarbeitete in dem Roman eigene Erfahrungen: seine Kindheit in Südestland vor den gewaltigen historischen Veränderungen und sein einsames Leben im Exil. Pilter betonte auch den Symbolismus des Namens Frommhold Hagivang, den Kangro seinem Protagonisten gegeben hat. Frommhold bedeute nämlich »Frömmigkeit« und Hagivang »Der Gefangene«. Der Roman behandelt eindringlich Themen wie Entfremdung, Erinnerung und Versöhnung.

Nach diesem Block zur estnischen Literatur sprach Benedikts Kalnačs (Lettische Akademie der Wissenschaften) über die lettischen Schriftsteller im Spannungsfeld zwischen Zensur und Zeitgeist und über die Strategien des Widerstandes. Er gab den Zuhörern auch einen Überblick über die Entwicklung der lettischen Literatur. Die ersten lettischen Texte wurden im 14 Jh. geschrieben. Im 19. Jahrhundert war die Literatur eher eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Die dritte Entwicklungsetappe folgte in der Zeit der Jahrhundertwende mit der ganzen Tradition der Weltliteratur im Rücken. Wichtig wurden innovative Texte und die geistige Selbstständigkeit des Volkes. Die erste Etappe der sowjetischen Zeit war dagegen wiederum von fremden Vorstellungen bestimmt. In den 1950er Jahren wendeten sich viele Schriftsteller enttäuscht von politischen Ideen ab und 1968 stellte man den Sozialistischen Realismus grundsätzlich in Frage. Dabei ist zu berücksichtigen, dass in der zweiten Hälfte der 1950er/1960er Jahre ein Generationswechsel erfolgte und eine Veränderung des politischen Klimas zu bemerken war. In den 60er/70er Jahren kehrte man sich endgültig von der Partei ab und der literarische Ausdruck wurde wieder subjektiver. Ziedonis Priede gab eine intensive Schilderung der Schwierigkeiten der jüngeren Generation in seinem Drama Pilzeduften (1966). Kalnačs wies am Ende seines Vortrages auch auf die enge Verbindung der Schriftsteller des Baltikums hin.

Der Schlussvortrag von Thomas Taterka (Universität Lettlands) wandte sich der Lagerliteratur am Beispiel von Primo Levi und Warlam Schalamow zu. Primo Levi war ein Gefangener im KZ Auschwitz und Warlam Schalamow ein GULAG-Häftling. Die Lager waren Manifestationen der totalen Herrschaft. Deren Zweck war, Menschen gemäß ihrer totalitären Idee umzuformen. Die Frage »Was ist menschlich?« wurde dort entscheidend gestellt und man versuchte die Grenzen des Menschlichen zu verschieben. Beide – Levi und Schalamow – sind Zeugen: Sie schrieben darüber, was sie erlebt haben. Levi benutzte eine möglichst einfache und klare, schmucklose Sprache ohne Übertreibungen. Wichtig war der Effekt der Objektivität. In zweiter Linie spielt die Glaubwürdigkeit eine wesentliche Rolle. Schalamows Literatur ist hingegen ein modernes Projekt. Für Schalamow sind Lager die Hölle und es gibt epistemisch zwei Möglichkeiten. Die erste ist, dass das, was da unten (im Lager) ist, nicht wahr sein kann. Die, die da sind, glauben das auch selbst. Und die zweite Möglichkeit ist, dass das, was oben (in der normalen Welt) ist, nicht wahr ist. Schalamow erkannte, dass die Sprache nicht vorbereitet sein kann auf die Zustände in den Lagern. Während Levi also schreibend Authentizität sucht, wählt Schalamow die ästhetischen Mittel der Moderne, um die Lagererfahrung, die extremste Form der Diktaturerfahrung, schreibend zu erfassen. In der Rezeption kehrt sich diese Intention um. Der eine gilt nämlich nur zunächst als authentisch und wird später schließlich als bloßer Konstrukteur von Authentizität betrachtet. Der andere hingegen gilt schließlich als authentisch, gerade weil er sich nicht darauf einließ, das Unschreibbare zu beschreiben, sondern den Weg über moderne ästhetische Mittel nahm. Thomas Taterka stellte angesichts dieses Befundes die Frage erneut: Was ist eine »authentische Lagererfahrung« und wie bzw. ob überhaupt ist sie adäquat sprachlich zu fassen.

Die Tagung konnte nur einige Facetten des vielgestaltigen Themas anreißen. Die Vorträge haben aber verdeutlicht, dass es an der Zeit ist, über den Tellerrand der Nationalliteratur zu blicken und das Schreiben unter totalitären Bedingungen komparatistisch zu untersuchen. Die Vorträge werden in der komparatistischen Zeitschrift Estlands Interlitteraria veröffentlicht.



Metaebene
 Autor*in:
 Veröffentlicht am 3. Juni 2013
 Kategorie: Wissenschaft
 Veranstaltungsgrafik von Dieter Neidlinger, Universität Tartu.
 Teilen via Facebook und Twitter
 Artikel als druckbares PDF laden
 RSS oder Atom abonnieren
 Keine Kommentare
Ähnliche Artikel
Keine Kommentare
Kommentar schreiben

Worum geht es?
Über Litlog
Mitmachen?