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Schwellenmomente

Spätestens seit der Nominierung für den Leipziger Buchpreis 2015 ist klar, dass Teresa Präauer zu den wichtigsten deutschsprachigen Autorinnen der Gegenwart gehört. In ihrem Roman Johnny und Jean schreibt sie über Fische, Duchamp und Genitalpanik.

Von Friederike Schruhl

Wie wird man eigentlich zu dem, der man sein möchte? Das ist eine verdammt schwere Frage. Prädestiniert für Selbstfindungstrips und Sinnkrisen ist die Übergangsphase zwischen Schule und Studium. Nach dem Abi wartet erst einmal die große, weite Welt. Entscheidet man sich dann für ein Studium, beginnt die Pubertät 2.0: In den ersten Semestern muss man durch Fehler und peinliche Grenzübertritte langsam und geduldig lernen, dass eine Frage als unpassend, eine Zeichnung als verfehlt oder die eingenommene Perspektive für weniger interessant befunden wurde. Hier treten die Regeln und Routinen der Kommunikationsabläufe, Handlungsvollzüge und Initiationsrituale der neuen kulturellen Umgebung besonders deutlich hervor. Erst später wird man merken, was man hier alles gelernt hat. Doch bis dahin ist es ein verdammt langer Weg. Teresa Präauer führt in ihrem Roman Johnny und Jean den Enkulturationsprozess von den Anfängen des Kunststudiums bis zum Durchbruch als Künstler eindrucksvoll vor und zeigt, dass es nicht die großen Entscheidungen sind, die uns verändern, sondern vielmehr die kleinen, unscheinbaren Bewegungen des Alltags.

Zwischen Schule und Studium

Der Roman beginnt mit den letzten Sommerferien der Schulzeit. Gerade saß man noch auf der Wiese, sprang ab und zu ins Wasser, sprach über alles und nichts und »[d]ann ist der Sommer vorbei, und wir verlieren uns, wie man so sagt, in alle Richtungen.« Alle, außer Johnny und Jean. Sie gehen gemeinsam auf die Kunsthochschule. Aus der Perspektive von Johnny erfährt man nun, dass Jean nicht Jean heißt, »weil bei uns keiner so geheißen hat« und »welch ein Trottel Jean gewesen ist, damals (…) auf dem Land«. Aber Jean hat von Anfang an Erfolg an der Kunsthochschule. Seine Aufnahmeprüfung verläuft ohne Probleme. »Er muss kein Gespräch mehr führen oder eine Probearbeit abliefern. Jean kann einfach heimgehen und an sein Œuvre anknüpfen.« Johnny hingegen versagt mit seinen »Studien vom kleinen Fisch im Wasserglas«.

»Ich habe mir gesagt, ja, genauso sieht ein Fisch aus, und mein Vater hat mir dabei noch anerkennend auf die Schulter geklopft. Wir haben noch gemeinsam die Farben des Passepartouts ausgesucht. Ich habe auch das Wort dafür eben erst gelernt gehabt. In der Stadt, fast schon zu spät, muss ich erkennen, dass man hier keine Fische detailgetreu mit zarter Farbe aufs Papier tuscht. Ich stehe vor meinen Bildern, und der Fischschwarm blickt mich aus hundert Augen an, und auch er, wie alle, schüttelt enttäuscht den Kopf: Junge, wach auf!«

Johnny muss sich eingestehen, dass die Werte und Normen seines vorherigen Lebens nicht mehr zu seiner Lebensphase an der Hochschule passen. Es gibt neue Begriffe und neue Instanzen.

Diskrete Sozialisierung

In Teresa Präauers Roman geht es um die Chance der neuen sozialen Geburt durch das Studium und um den Beginn einer Karriere. Präzise beschreibt die Autorin die diskreten Phasen der Enkulturation von Johnny. Die Geschichte folgt dabei dem Studienverlauf seines Protagonisten. Die Ankunft an der Hochschule wird durch die Einführung in das Grundieren und die richtige Materialverwendung eröffnet:

»Wie geht das? Man hämmert die Keilrahmen zusammen, hockt sich auf den Boden und bespannt die Rahmen mit Leinwand, wobei man jeweils in der Mitte der Rahmenleisten zu tackern beginnt: Mitte oben, Mitte unten, Mitte rechts, Mitte links. Man übt sich, lese ich, in der Politik des richtigen Bespannens. Und weiter? Man erhitzt die trockenen Kügelchen des Knochenleims im Wasserbad und löst sie auf zu einer hellen, glitschigen Masse.«

Buch-Info


Teresa Präauer
Johnny und Jean
Wallstein: Göttingen, 2014
208 Seiten, 19,90€

 

Autorin


Teresa Präauer, geb. 1979, lebt in Wien. Sie hat in Berlin, Salzburg und Wien Germanistik und Malerei studiert.
Auszeichnungen:
2012 aspekte-Literaturpreis
2015 Nominierung zum Preis der Leipziger Buchmesse
2015 Droste-Literaturförderpreis der Stadt Meersburg
2015 Förderpreis zum Friedrich-Hölderlin-Preis
Teresa Präauer kommt am 18. Mai nach Göttingen ins Literarische Zentrum.

 
 

Johnny zweifelt aber, ob es richtig ist, sich auf die Beherrschung von Regelwissen im Kunststudium zu verlassen. Sein erfolgreicher Antipode Jean nämlich »pfeift auf die Politik des richtigen Bespannens. Er wirft sich in die Büsche, umarmt die Bäume, steckt seinen Kopf in Mülltonnen, legt sich auf die Straße, öffnet Kanalgitter und klettert bis zum Bauch hinein. In jeder Pose verharrt er für einige Sekunden und nennt das: Skulptur.« Eigentlich will Johnny einfach nur alles richtig machen. Aber wann muss man eine Regel brechen und wann muss man sie befolgen? Woher weiß man das alles?

Wohnen, Leben, Arbeiten

Und wie soll man als Student eigentlich wohnen? »Ausziehen, das sagen manche Menschen so leicht. Aber gewartet hat hier in der Stadt auch keiner auf einen.« Johnny versucht erst einmal sein Zimmer einzurichten. »Ich stelle meine beiden Schreibtische zu zusammen, dass sie in der Mitte des Raumes stehen und einen großen Arbeitstisch ergeben. Den Arbeitstisch beklebe ich mit Zeitungspapier als Unterlage. Ich stelle meinen Sessel so an den Tisch, dass das Licht von links hereinscheint, damit ich beim Arbeiten nicht den Schatten meiner Hand auf dem Zeichenblatt habe. Profiwissen.« Er nimmt einen Hilfskraftjob in einer Galerie an. »Ich werde geduzt, ich werde übersehen, ich werde herbeizitiert. Ich werde vorgestellt als Putzkraft, als Kellner, als Schuhputzer. Manchmal sage ich, ich bin auch Maler. Dann klopft mir jemand so kräftig auf die Schulter, dass ich heulen könnte, und sagt: Weiter so, junger Mann.« Er geht zu Ausstellungen. »Man sagt dazu: Kontakte knüpfen, Präsenz zeigen, einen Eindruck hinterlassen. – Scheiße.« Johnny erlebt alle Höhen – und vor allem Tiefen – der neue Sozialisationserfahrung. In den Semesterferien fährt man als Student nach Berlin, Amsterdam, Paris – klar, mit Interrail. Man ist ja jung und will die Welt sehen: Johnny ist vollkommen überfordert. Er beginnt allmählich seine Umgebung zu beobachten und zu imitieren. Beim Einkauf im »Künstlerbedarfsladen« geht er »zu den Pinseln, streicht mit den Fingerkuppen über Haare und Borsten, um, ganz Profi, die Qualität zu prüfen. Man steht lange vor dem Marderhaar-Pinsel und schmachtet ihn an.« In seiner Phantasie führt er Gespräche mit Duchamp, Beuys und Dalì.

Jean und Johnny. Jean and Johnny. Jean et Johnny

Johnny und Jean. Jean und Johnny. Im Roman bleibt offen, ob es sich bei Jean nicht um eine Projektionsfigur von Johnny handelt. Immer wieder wird über die binäre Zuschreibung von Jean bzw. Johnny, high and low culture, Frankeich hier und Amerika dort, außen und innen, Erfolg und Niederlage, Professionalität und Dilettantismus verhandelt. Und es würde vielleicht alles etwas schematisch wirken, wenn es nicht so verdammt klug beobachtet und witzig wäre. Teresa Präauer legt mit ihrem Roman zugleich eine Satire auf den Kunstbetrieb und einen echten Ratgeber fürs Studium vor. Dabei lenkt sie den Blick schonungslos dorthin, wo man am unsichersten ist, aber am meisten lernt: an den Anfang.



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 Veröffentlicht am 10. Mai 2015
 Kategorie: Belletristik
 My new fish von Michelle via Flickr
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