In Roringen nahe Göttingen fand Ende September das experimentelle stallarte-Festival für Bildende Kunst, Lyrik und Neue Musik statt. Andreas Bülhoff hat sich auf Wallfahrt begeben und erlebte Dada in der Kirche, die Krise der Syntax und Spieluhrmusik vom Feinsten.
Von Andreas Bülhoff
Wenn man nicht genau weiß, wo man hinwill, dann ist es schon ein Stück nach Roringen. Dabei sind es kaum 8 Kilometer von der Göttinger Innenstadt aus und es fährt sogar ein Bus. Aber irgendwie ist alles, was außerhalb der Stadtgrenzen liegt, weit und deswegen lässt man es sein oder nimmt das Auto und fährt eben ein Stück und es kann passieren, dass man den Weg nicht direkt findet, und dann spät dran ist und dann sind da noch die Einbahnstraßen, von denen es in Roringen verhältnismäßig viele zu geben scheint, und früher dunkel wird es Mitte September auch noch.
Jedenfalls kommt man an und sucht die Kirche und fragt nochmal nach und steht dann davor und ist sich nicht ganz sicher. Hier also findet ein »Festival für Bildende Kunst, Lyrik und Neue Musik« statt? Ganz richtig. Erwartungen werden verspielt oder übergangen, auch bei diesem literarischen Samstagabend, an dem die Grenzen verwischen zwischen Lesung, Performance und Musik. In einer kleinen Kirche, kaum zehn Bänke passen hintereinander, sind wir angekommen – es hat ein bisschen was von Wallfahrt.
Zum dritten Mal schon findet das sogenannte stallarte-Festival statt. Die Idee dazu entstand 2007 zwischen Tobias Amslinger, gebürtigem Göttinger und damals noch Student des Literaturinstituts Leipzig, und einigen Roringer Freunden, darunter vor allem die Künstlerin Christel Irmscher, der Kunstwissenschaftler Prof. Siegfried K. Lang und die Dramaturgin Rebecca Schuster. Ein Anliegen sei es gewesen, so Amslinger, junge Künstler und den Austausch unter ihnen zu fördern. Und das zeigt sich in der Lyrik auch an so vielversprechenden Namen wie Nora Bossong oder Kerstin Preiwuß.
Neben diesem Anliegen wird das Festival-Konzept aber vor allem von der ungewöhnlichen Wahl des Ortes getragen. »Wir möchten unkonventionellen Formen der Kunst einen Raum einräumen, wo sie weitestgehend fremd sind. Gewohnte Seh- und Hörweisen durchbrechen. Wir sind der Überzeugung, dass eine produktive Spannung entsteht, wenn etwa ein Künstler die Roringer Pfarrscheune umgestaltet oder eine Installation in einer alten Scheune aufbaut. Das ist etwas anderes als im White Cube«, sagt Amslinger, der dem Festival nicht nur als Veranstalter, sondern auch als Lyriker verbunden ist.
Die dramatische Lage der SyntaxGelesen wird heute Abend allerdings nicht in einer Scheune, sondern in der Roringer St. Martins-Kirche und zwar in zwei Blöcken. Erst ist die Lyrikknappschaft Schöneberg an der Reihe, ein Zusammenschluss junger Lyriker, unter ihnen auch Tobias Amslinger, die sich manifestartig in die Nachfolge von Dada stellen (siehe die erste Ausgabe ihres Online-Magazins karawa.net zu Hugo Ball).
Nach einer kurzen Pause wird die Kirche für ihre Verhältnisse nun richtig voll. Sowohl im Zuschauerraum, als auch auf der Bühne, auf der nun eine Menge skurriler Klangerzeuger, Maultrommeln, Drehorgeln und Schalltrichter angerichtet sind. Bühne frei also für Nora Gomringer – Poetry-Slam-Star und im Spoken Word-Mikrokosmos Publikumsmagnet – und Franz Tröger, angekündigt als Spieluhrmusiker, aber tatsächlich im weitesten Sinne Performer, wie sich wenig später herausstellt. Den fulminanten Auftakt bildet Gomringers Gedicht »Ich werde etwas machen mit der Sprache«, programmatisch und eindringlich zugleich.
Die Richtung ist klar: Was im ersten Teil schwer verdaubar sein konnte und vielleicht durch eine zusätzliche Lektüre hätte unterstützt werden müssen, wird jetzt zugespitzt zu Gedichten, die in ihrer sprachlichen Realisation erst vollends zu sich selbst finden. Jedenfalls ist es gute und auch witzige Unterhaltung, wenn nach dem Lesen Gomringers, die wuchtig und ausladend ihren ganzen Körper einsetzt, der etwas schmächtige, verschmitzt lachende Franz Tröger aufsteht, und eine Lochkarte in eine seiner Spieluhren schiebt. Was dann, wärend er sich mit der Kurbel abmüht, erklingt, ist von melancholischer Schönheit und erinnert an eine Mischung aus Yann Tiersens Amélie-Soundtrack und Glockenspiel.
Seinem Höhepunkt strebt der Abend entgegen, als Gomringer und Tröger beginnen, Klassiker der Konkreten Poesie zu rezitieren. So hat man das noch nicht erlebt. Sie stehen auf, sprechen durcheinander, laufen herum, stellen Inhalte mit Figürchen nach, verrenken sich, musizieren und schauspielern – ein poetisches Jahrmarktsfest, das in der Performanz von Eugen Gomringers orgasmischem Reigen »hängen und schwingen« gipfelt.
»Warum kann der Baum nicht ›Pluplusch‹ heißen?«Als sie fertig sind, stellt man verwundert fest, dass man immer noch in der kleinen Roringer Kirche sitzt. Aber auch diese Verwunderung ist natürlich Programm dieses Wort-und-Ort-Festivals: »So, wie das Festival stallarte die festgelegte Bedeutung von ORTEN umdefiniert«, erzählt Tobias Amslinger später, »so ist es in meinen Augen eine ganz wesentliche Aufgabe der Literatur, die festgelegte Bedeutung von WORTEN umzudefinieren. Hugo Ball hat das im Dadaistischen Manifest so gefasst: ›Warum kann der Baum nicht ›Pluplusch‹ heißen? und ›Pluplubasch‹, wenn es geregnet hat?‹«
Ja, warum eigentlich nicht, fragt man sich nach einem solchen Abend. Schade nur, dass in Roringen die Stallart’ler bei diesen spannenden Experimenten weitestgehend unter sich bleiben.