Jostein Gaarder doziert mit erhobenem Zeigefinger im Göttinger Max-Planck-Gymnasium. Sein Ansinnen ist kein kleines. 20 Jahre nach Sofies Welt stellt der Norweger in 2084 – Noras Welt eine der drängendsten Fragen unserer Zeit: Können wir unsere Umwelt und das Klima retten?
Von Magdalena Kersting
Mit dieser Frage stellt der Hanser Verlag Jostein Gaarders neues Jugendbuch vor und mit ihr wird auch der vom Literarischen Zentrum ausgerichtete Abend mit dem norwegischen Autor eingeleitet. Die Bühne ist karg in der kleinen Aula des Max-Planck-Gymnasiums, ein großer Kronleuchter schwebt über dem bunt gemischten Publikum, das sich hier zusammengefunden hat. Nicht viel lenkt ab von dem Tisch in der Mitte, auf dem eine Wasserkaraffe und zwei Gläser stehen. Zwei befestigte Mikrofone darauf. Und zwei Menschen hinter den Mikrofonen, beide etwa Anfang 60, beide auf den ersten Blick recht unscheinbar. Gaarder strahlt mit seinem Vollbart und seinen hellen, grauen Haaren gelassene Ruhe aus, während sein Blick über das Publikum streift. Neben ihm sitzt Gabriele Haefs, Autorin und Gaarder-Übersetzerin aus Hamburg. Sehr unaufgeregt sitzt sie dort, fast schon gelangweilt, die Haare fallen in ihr Gesicht und über ihre große, runde Brille. Als Ritterin erster Klasse wird sie vorgestellt, ausgezeichnet mit dem Königlich Norwegischen Verdienstorden für ihre Übersetzungsarbeiten. Weniger ritterlich wirken zunächst ihre Umgangsformen, ungeschliffen und beinahe schon flapsig führt sie durch den Abend, liest betonungslos den Verlagstext vor und kommentiert trocken das Gesagte.
Appendix zu Sofies WeltVor genau 20 Jahren erschien Gaarders Welterfolg Sofies Welt in deutscher Übersetzung und ganz naheliegend werden an diesem Abend zuerst philosophische Fragen thematisiert. Gaarder spricht Englisch, immer wieder gespickt mit Deutsch, mit Haefs redet er Norwegisch und oft versteht er auch ohne Übersetzung die deutschen Fragen aus dem Publikum. Gutmütig ist sein Blick und man kann ihn sich leicht als den literarischen Vater von Sofie, Hans-Thomas, Georg, Cecilie und all den anderen vorstellen, die als Hauptfiguren in seinen bekannten Kinder- und Jugendbüchern stecken. Seine Hände spielen mit seiner Brille, während er erklärt, dass er über Altersgrenzen hinweg für alle Menschen schreibe, nicht nur für Kinder und Jugendliche. Seine Themen seien schließlich altersunabhängig und allgegenwärtig.
»Die großen Fragen des Lebens – die haben wir jetzt abgehakt!« unterbricht Haefs lapidar, aber doch sympathisch-humorvoll Gaarders Ausführungen und leitet über zum nächsten Teil der Lesung. Der Autor genießt sichtlich das leicht perplexe Lachen des Publikums, blickt sich verschmitzt um fragt noch schnell auf Englisch, wer im Raum denn zumindest ein bisschen Norwegisch spreche (erstaunlich viele heben die Hand), bevor er beginnt das erste Kapitel seines neu erschienenen Buches vorzulesen. Er liest routiniert und seine Stimme erfüllt den Saal mit der schönen Melodie der norwegischen Sprache.
Noras Welt beschreibt Gaarder als eine Art Appendix zu Sofies Welt. Denn die seiner Meinung nach größte Herausforderung der heutigen Zeit, der Umgang mit dem Klimawandel und seinen Folgen, sei eine genuin philosophische Problemstellung – und die wichtigste philosophische Frage der Neuzeit, die in Sofies Welt komplett fehle. Der Autor betont dabei mehrmals, dass die Fakten in seinem Buch alle wissenschaftlich belegt seien und appelliert auch an die Zuhörer, dass es noch nicht zu spät sei, zu handeln. Wie seine Protagonistin Nora wirkt Gaarder selbst neugierig und engagiert. Er nimmt sich bewusst Redeanteile, er gestikuliert und ist immer in Bewegung. Und während es draußen vor den Fenstern an diesem Novemberabend dunkel wird, wird der Norweger immer wacher und lebhafter. Er redet betont, laut, schnell und mit Nachdruck. Immer wieder hebt er den Arm und streckt seinen Zeigefinger aus, so unterstreicht er gerne das, was er sagt. Haefs übersetzt ihn teilweise, doch es wirkt ungeschickt und ein bisschen fehl am Platz, denn der Großteil des Publikums versteht Englisch.
Verlegerkalkül und Großvaters LiebstesWieder einmal ist es ein starkes Mädchen, das die Hauptrolle in dem neuen Buch spielt und Gaarder zeigt sich erstaunt, dass er im Ausland so oft auf seine weiblichen Heldinnen angesprochen wird. Haefs und Gaarder unterhalten sich über die Rolle von Frauen und stellen fest, dass die Weisheit durch alle Zeiten und Kulturen hinweg als weibliches Attribut angesehen wurde. Die beiden wirken dabei fast wie zwei alte Bekannte, die sich zum Plausch getroffen haben und der Norweger erzählt immer wieder kleine Anekdoten und Geschichten aus seinem Leben. Aus dem Publikum kommen viele Fragen und Gaarder konstatiert, dass Frauen verstehen wollen, Männer hingegen verstanden werden wollen. Die Lacher der Zuhörer sind einkalkuliert und man fragt sich, wie oft Gaarder auf seinen weltweiten Lesungen schon zu diesem provokanten Schluss gekommen ist.
Begleitet werden Gaarders Ausführungen von Sonja Elena Schroeder, die zwei Kapitel aus Noras Welt vorliest. Der Autor liest interessiert in der deutschen Ausgabe seines Buches mit, während Schroeder, die im Jungen Theater als Ausstatterin arbeitet, gekonnt vorträgt. Natürlich ist dem Publikum nicht entgangen, dass Gaarders Protagonistin in der deutschen Übersetzung Nora und nicht Anna heißt. Und auch das Jahr 2084 findet sich nur im deutschen Werktitel, im norwegischen Original spielt die Handlung zwei Jahre früher. Der Autor erklärt, dass er eigentlich die Anspielung auf Orwells 1984 vermeiden wollte, die der Hanser Verlag nun ganz bewusst in den Titel integriert hat. Gaarder hat deshalb sogar extra eine Szene für das deutsche Buch dazugeschrieben, in der Nora im Bücherregal auf eine Ausgabe von 1984 stößt. Dass Nora Nora und nicht Anna heißt, hat eine viel einfachere Erklärung: Diesen Winter erscheint im Hanser Verlag nämlich ein weiteres Buch, das den Namen Anna im Titel trägt.
Zum Abschluss möchte Haefs noch vom Autor wissen, welches seiner Bücher eigentlich sein Lieblingsbuch sei. Gaarder versucht sich herauszureden, dass ein Großvater doch auch nicht sagen könnte, welches seiner Enkelkinder sein liebstes sei. Haefs erwidert schelmisch, dass Großväter das sehr wohl wüssten, nur nicht laut aussprechen dürften – im Gegensatz zu Gaarder mit seinen Büchern. Und so schafft sie es, ihn aus der Reserve zu locken und er gesteht schlussendlich, dass er Das Kartengeheimnis wohl am liebsten möge, bevor er dazu übergeht, geduldig die mitgebrachten Bücher der Zuhörer zu signieren.