Impressum Disclaimer Über Litlog Links
Insel der Entschleunigung

Roy Jacobsen schreibt in seinem aktuellen Werk Die Unsichtbaren über das Leben auf einer abgeschiedenen Insel. Ihm gelingt eine faszinierende Geschichte über den Wert der Heimat – denn sie ist frei von rosarotem Kitsch und stattdessen erzählt mit schonungsloser Härte

Von Merten Kröncke

Es gibt ja diesen Ratschlag, als Autor nicht mit dem Anfang zu beginnen, sondern ein oder zwei Kapitel danach. Nur so entstehe Tempo und Drive. Man müsse gleich in medias res gehen, den Leser sofort mit einer plötzlichen und unerwarteten Situation konfrontieren, ihn nicht mit dem langweiligen Vorspiel ermüden. Roy Jacobsen folgt diesem Ratschlag jedenfalls nicht. Er beginnt in seinem neuen Werk Die Unsichtbaren (in der Übersetzung von Gabriele Haefs und Andreas Brunstermann des 2013 auf Norwegisch erschienenen De Usynlige) nicht mit dem ersten oder zweiten Kapitel, ja noch nicht einmal mit dem Anfang an sich. Eigentlich handeln fast alle der 270 Seiten von der Zeit vor dem In-medias-res-Anfang. Aber das ist nicht langweilig. Es ist nur entschleunigend.

Das Werk erzählt von einer Familie im Norwegen des frühen 20. Jahrhunderts. Sie lebt alleine auf der winzigen Insel Barrøy; zwei Stunden braucht man mit dem Ruderboot bis zur Hauptinsel, wo es eine Siedlung gibt. Die Bewohner eines solchen Eilands sind wahrlich Unsichtbare für den Rest der Welt. Und nachdem man das auf den ersten Seiten erfährt, passiert auch für eine ganze Weile erst einmal nichts Dramatisches.

Schlaglichter auf eine Insel

Stattdessen wird das harte, alltägliche Leben geschildert. Wie die Insel aussieht, wo die Familienmitglieder schlafen, wie sie, in ärmlichen Verhältnissen, von Landwirtschaft, Viehzucht und Fischfang leben. Kleinen Miniaturen gleichen die meisten der insgesamt 53 kurzen und plastischen Kapitel des Werks. Einmal geht es um das störrische Pferd, einmal um den Tod des Katers, dann um den schrecklichen ersten Wintersturm. Recht unverbunden stehen diese Episoden nebeneinander, kleine Schlaglichter, die in ihrer Gesamtheit doch ein ganzheitliches Bild des Lebens auf Barrøy zeichnen. Nicht Reden, sondern Handeln steht dabei im Vordergrund. Dialoge oder Äußerungsfetzen sind indirekt und distanziert geschildert; zum Beispiel heißt es bei der Darstellung des ersten Wintersturms nur:

Die Gesichter der Erwachsenen sind in Stein gehauen. Sie flüstern und werfen verstohlene Blicke und versuchen zu lachen, durchschauen ihr eigenes Theater und werden wieder ernst, denn die Häuser auf Barrøy stehen zwar noch, aber das ist kein Beweis für etwas anderes als den gestrigen Tag

Die Erzählperspektive wechselt dabei zwar gelegentlich zwischen den einzelnen Personen, doch bleibt der Wahrnehmungshorizont immer an Barrøy gebunden. So wie die Insel der Mittelpunkt des Werks ist, ist das winzige Eiland zugleich der Mittelpunkt der Familie, die schon seit Generationen hier lebt.

Eine fast schon schmerzhafte Symbiose

Es ist ein Leben, das gerade wegen seiner Einfachheit fasziniert. Die Vegetation, die Fischgründe, der bedeutsame Wechsel der Jahreszeiten sind unverrückbare Parameter, die die Menschen determinieren. Alle Erlebnisse der Figuren, ihr gesamtes Schicksal, sind untrennbar mit der Insel verbunden. Barrøy scheint ihr Dasein in fast schon schmerzhafter Symbiose aufzusaugen, indem es seine Bewohner dazu zwingt – fast könnte man tatsächlich glauben, die Insel sei handelndes Subjekt –, all ihre Energien auf das (Über-)Leben auf und mit dem Eiland zu konzentrieren. Dies zeigt sich sehr eindrücklich, wenn es durch einen mörderisch heißen Sommer selbst an dem wichtigsten und alltäglichsten Versorgungsmittel des Menschen, dem Trinkwasser, einen existentiell bedrohlichen Mangel gibt, und gibt zu erkennen, dass das Miteinander von Natur und Menschen oft genug unbarmherzig sein kann:

Eine gewisse Verzweiflung ist in das Dasein getreten, der Ernst steht in das Weiße des Auges geschrieben, das hier ist gefährlich […], wann hat es zuletzt solch einen Sommer gegeben?

Weit über die Hälfte des Werks baut Roy Jacobsen das Gefühl des Lebens auf der Insel auf. Dabei schwingt immer drängender die zentrale Frage mit, warum sich die Bewohner des Eilands all die Entbehrungen antun. Warum versuchen sie nicht, die qualvollen Fesseln an Barrøy zu lösen? Es ist die Frage nach dem Wert eines Lebens in Abgeschiedenheit und Armut im Kontrast zum Leben in der modernen Gesellschaft, aber auch die Frage nach dem Wert von Heimat, die Jacobsen hier stellt. Und genau an dieser Stelle beginnt der Autor da, wo er nach jenem eingangs erwähnten Ratschlag vermutlich noch immer nicht hätte anfangen sollen: Mit dem Anfang der Handlung.

Buch-Info


Roy Jacobson
Die Unsichtbaren
Osburg Verlag: Hamburg, 2014
280 Seiten, 19,99€

 
 
Der Tochter Ingrid ist Barrøy nicht mehr genug. Fische auszunehmen und Torf zu stechen reichen ihr nicht mehr, sie möchte wie andere Mädchen ihres Alters im Chor singen und mit Freundinnen spazieren gehen. Die Sehnsucht nach der Welt da draußen überkommt sie und sie löst sich probehalber von Barrøy. Sie nimmt eine Stelle als Dienstmädchen in einem Haushalt auf der Hauptinsel an und kümmert sich dort um die Kinder Felix und Suzanne. Ein schicksalhafter Doppelschlag wirft nun alles, was bis hierhin geschehen ist, um: Zum einen verschwinden die Eltern von Felix und Suzanne, vermutlich aus finanziellen Problemen. In ihrer Not entschließt sich Ingrid, mit beiden Kindern nach Barrøy zurückzukehren. Kaum ist sie dort angekommen, folgt der zweite Schicksalsschlag: Der Familienvater Hans stirbt plötzlich, vermutlich an einem Schlaganfall. Die Mutter ist apathisch und kaum mehr ansprechbar, so tief sitzt der Schock. Man könnte nun vermuten, dass dies das Ende des Lebens auf Barrøy sein muss, denn wie sollen die Kinder an diesem Ort allein für sich sorgen? Es scheint unausweichlich zu sein, das Angebot der Frau des Pastors, auf die Hauptinsel überzusiedeln, anzunehmen. Aber: Nichts dergleichen geschieht. Die Kinder bleiben, sie halten durch. Unbegreiflich scheint es, wie erwachsen und verantwortlich zum Beispiel der Sohn Lars für die anderen sorgt, obwohl er doch gerade einmal 12 Jahre alt ist.

Der Sound ist blau-grau

Es entfaltet sich nun die vermutlich größte Stärke des Werks: Die Entscheidung, auf dem Eiland weiterzuleben, kommt einem beim Lesen vollkommen natürlich, ja geradezu selbstverständlich vor. Denn trotz all der Entbehrungen gewinnen die Figuren doch durch das Leben auf Barrøy unvergleichlich viel mehr, als sie verlieren: Einen Ursprung, ein eigenes Stück Land, das man in vollkommener Freiheit bewirtschaftet, eine Art Wurzel in der Welt – kurz: Eine Heimat. Meisterhaft gelingt es Roy Jacobsen, diese entscheidende Stelle in seinem Werk so vorzubereiten, dass der Leser automatisch nachvollziehen kann, dass die Psyche der einfachen Leute nur den einen Entschluss zulässt: Zu bleiben. Zu sehr ist ihre Biografie an die Insel gebunden und mit ihr verwoben. Das versteht man gerade nur, weil sich der Autor so viel Zeit lässt und weil er eben nicht sofort hektisch in die Dinge hineinspringt. Das Lebensgefühl auf Barrøy kann langsam wachsen und sich zu dem unumstößlichen Gesetz verfestigen: »Niemand kann eine Insel verlassen, eine Insel ist ein Kosmos im Taschenformat«

Roy Jacobsen erzählt hier eine Geschichte von Unabhängigkeit, von Natur und vor allen Dingen von der Bindung an eine Heimat. Aber er tut das nicht naiv und schwärmerisch, sondern hart und realistisch; sein Sound ist weniger pink, sondern eher so blau-grau. Der Autor schildert eine raue Gegenwelt, nicht nur zum Leben in der modernen Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts in Norwegen, sondern zugleich zum heutigen Zeitalter der digitalen Revolution. Während unsere technologisierte Welt durch die permanente Beschleunigung der Kommunikation zunehmend Orte vernetzt, sie zusammenrücken und dadurch auch immer bedeutungsloser werden lässt, ist es in Die Unsichtbaren ausgerechnet die Bindung an das winzige Barrøy, welche dem Leben Wert verleiht. Es ist dabei nur konsequent, dass Roy Jacobsen der entschleunigten Gegenwelt auch mit einer entschleunigten Erzählform Rechnung trägt, indem er das Dogma des In-medias-res-Anfangs unterläuft. Nur so kann die unglaublich faszinierende Wirkung entstehen, welche die Erzählung von der Insel auszuüben vermag.



Metaebene
 Autor*in:
 Veröffentlicht am 8. August 2014
 Kategorie: Belletristik
 Birds of a feather von Kanelstrand (hier größenverändert), im Original bei Flickr
 Teilen via Facebook und Twitter
 Artikel als druckbares PDF laden
 RSS oder Atom abonnieren
 Keine Kommentare
Ähnliche Artikel
Keine Kommentare
Kommentar schreiben

Worum geht es?
Über Litlog
Mitmachen?