Wie viel Humor sich auch in einer Dystopie finden kann, zeigt Vladimir Sorokins neuer Roman »Telluria« beeindruckend. Zwischen Fabelwelt und modernem Mittelalter siedelt der große russische Autor sein Kaleidoskop der Gesellschaftsgeschichten an und überlässt es dem Leser1, Anknüpfungspunkte in der Gegenwart zu suchen.
Von Florian Pahlke
Schon das Setting des Romans deutet die Vielschichtigkeit an, mit welcher der Leser im Verlaufe des Textes konfrontiert wird. Der titelgebende Staat »Telluria« ist in Eurasien angesiedelt, der Kontinent ist jedoch nach einem langen Krieg mit Allahs Gotteskriegern in dutzende Kleinstaaten zerfallen. Russland existiert nicht mehr, es gibt jedoch fünfzehn Republiken, die alle ihre Eigenheiten aufweisen: Moskowien präsentiert sich als eine Verschmelzung von russischer Orthodoxie und Kommunismus, die SSSR – die Stalinistische Sowjetische Sozialistische Republik – beherbergt Ex-Oligarchen und die Republik Rjasan lebt einen sprachlichen Konservatismus, weshalb Fremdwörter auf Strafe verboten sind. In dieser Ausgestaltung deutet sich die ständige Zerreißprobe an, welcher die Welt von Telluria ausgesetzt ist: Sie wird nur noch lose zusammengehalten.
Nägel als DrogeMaterial der Wahl für diesen losen Zusammenhalt ist Tellur. Was früher Wein, ein wenig später LSD war, und heute vielleicht Cannabis ist, findet seinen vorläufigen Höhepunkt in Tellur. Das dem Staate Telluria Pate stehende Metall und Grund der exponierten Stellung des Staates im Roman ist Rohstoff für Nägel, welche als neuartige Droge fungieren: Einmal in den Schädel geschlagen, verschaffen sie dem Träger ein für Tage andauerndes Glücksgefühl, heilen Krankheiten und lassen alles Schlechte in der Welt verblassen. Das Risiko, das Einsetzen des Nagels nicht zu überstehen, ist allerdings nicht gerade gering, der Preis hoch und der Konsument damit immer auch Statusträger.
Tellur ist es auch, das den Roman zusammenhält, da es in vielen der fünfzig Geschichten, aus denen das Buch besteht, eine Rolle spielt. Ansonsten haben die einzelnen Geschichten wenige Gemeinsamkeiten: Figuren kommen selten zweimal vor, Orte und Zeiten werden oft im vagen gelassen, weisen darüber hinaus aber viele Unterschiede auf. Sprachlich zeigt Sorokin eine ganze Bandbreite an Stilen und wechselt versiert zwischen Werbetexten, Märchen, Dialogen und verschiedenen Formen der Kurzgeschichte. Fast jeder dieser kleinen Texte findet dabei seinen eigenen Ton und unterscheidet sich teilweise radikal von der vorangegangen Geschichte. Es ist beeindruckend zu lesen, wie vielfältig Sorokin in seinem Erfindungsreichtum agiert. Ob trockener Lexikonartikel über Tellur, galantes Palavern am Lagerfeuer zwischen Armeeoberhäuptern oder kurze Einblicke in einzelne Lebensschicksale, der Autor agiert sprachlich stets angemessen und schafft es mit wenigen Sätzen, die verschiedenen Genres aufzurufen. Es ist somit kaum verwunderlich, dass für die deutsche Übersetzung gleich acht Übersetzer am Werk waren, die sich passenderweise Kollektiv Hammer und Nagel nennen.
Die Probleme, welche in dieser Welt auftauchen, sind nicht neu, sie sind allerdings radikal weiter gedacht und so gelingt es Sorokin, eine groß angelegte Satire auf die Gegenwart zu schreiben, indem er eine Zukunft schafft, die nur als Farce zu verstehen ist. Die vergangenen Auseinandersetzungen haben nicht nur das ehemalige Russland, sondern auch Europa zurückgeworfen und die Staaten sind in Kleinstrepubliken zerfallen. Eine weitere Auswirkung besteht darin, dass der Orden der Tempelritter wieder auferstanden ist und gegen die muslimischen Invasoren in Stockholm und Istanbul ins Feld zieht. Es fällt schwer, den Roman nicht unter aktuellen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen zu lesen. Und so mag man hoffen, dass bei all der auf Auflösung, – sei es der postsowjetischen Ordnung oder der Romangattung – sich am Ende nur in Telluria ein Konglomerat des Mittelalters mit Elementen der Science-Fiction bildet und die Dystopie nicht auch eine Prophezeiung ist.