»M ist das Protokoll einer Ermächtigung«, so kündigt der Verlag vollmundig an. Der Anspruch des Romans an sich selbst ist deutlich, doch wer ermächtigt sich eigentlich über was? Anna Giens und Marlene Starks Debüt handelt von weiblicher Sexualität und der Berliner Kunstszene.
Von Dennis Klofta
Wenn es um das Thema der weiblichen Sexualität geht, ist unsere vermeintlich offene Gesellschaft noch sehr rückständig. Statt selbstbestimmtem und selbstbewusstem Ausleben weiblicher Lust herrscht immer noch ein angespanntes Klima zwischen Beschämung und Prüderie. Das liegt wahrscheinlich auch daran, dass ihre Sexualität viel zu oft nicht von den Frauen selbst, sondern von Männern bestimmt wird. Insbesondere in der Kunst, die lange als Vorreiter in dieser Thematik galt, wurde in den letzten Jahren verstärkt offenbar, dass es Männer sind, die im Hintergrund die Fäden in der Hand halten. Es ist genau dieses Problem der männlichen Kuratoren, mit dem sich Anna Gien und Marlene Stark in ihrem Debüt beschäftigen und dem die beiden Autorinnen mutmaßlich in ihren Alltag selbst schon oft begegnet sind, denn Anna Gien, eine Wahlberlinerin aus München, ist freie Schriftstellerin und unabhängige Künstlerin, Marlene Stark ist Künstlerin und DJ. Man könnte fast den Eindruck gewinnen, die titelgebende Protagonistin M. ihres Romans sei ein Hybrid aus den beiden in Berlin lebenden Autorinnen. Denn auch M. lebt in Berlin und ist Künstlerin und DJ.
Der sexuelle Alltag der KunstBevor der*die Leser*in jedoch überhaupt auf die Protagonistin trifft, wird er*sie mit der sich über drei Seiten erstreckenden Widmung konfrontiert, aufgeführt sind weibliche Vornamen. Mit diesen Namen im Hinterkopf stellt sich die Frage, inwiefern M. nicht nur ein Hybrid aus den beiden Autorinnen ist, sondern vielmehr ein zusammengesetztes Konstrukt aus den Erfahrungen dieser Frauen. Auf jeden Fall wirkt der Roman so, als beinhalte er weit mehr zwei Schicksale: M behandelt viele Themen angefangen mit dem Künstler*innenleben, über Prostitution als Studiumsfinanzierung bis hin zur LGBTQI*-Bewegung, um nur einige Beispiele zu nennen.
Als Kind hieß M. Jürgen und steckte sich zwei Walnüsse in die Strumpfhose, jetzt, als erwachsene Frau »fickt« sie die mächtigen Kuratoren mit einem Strap-On (»Ich liebe es, wie du mich in den Arsch fickst, M., so schnell, so langsam.«). M. Ist nicht trans, sie weiß nur, was diese verheirateten Männer eigentlich wollen: eine Künstlerin mit einem Plastikpenis. Auch wenn Sex M.s Ansicht nach meist die kleinen Chancen des künstlerischen Aufstiegs
Auf diese Weise betäubt lebt sie von einem Tag zum nächsten. Diese Exzesse enden fast zwingend in hemmungslosem Sex. Nur am Morgen danach, in den kurzen nüchternen Momenten setzen oft Ekel und Scham ein. Als M. an Weihnachten zu ihrer Familie nach München zurückkehrt, wird ihr Berliner Alltag mit der Münchener Frigidität konfrontiert. In der heilen Welt ihrer Familie wirkt M. wie ein Alien. Als sie dann von ihrer Mutter beim Rotwein-trunkenen Cybersex belauscht wird, kommt es am nächsten Morgen zur Aussprache. Hat M. sich prostituiert?
Nach diesem Bruch in der Handlung, entschließt sich M. in der Hoffnung auf schnelles Geld zu einer Reise nach Jerusalem, bevor sie wieder ins ritualisierte Berliner Chaos zurückkehrt. So springen auch die Autorinnen sehr schnell von einem Problem zum nächsten. Die Erzählung bleibt deshalb häufig eine leere Aneinanderreihung von Ereignissen, die es nicht schafft, die Spannung aufrechtzuerhalten. Sobald ein interessanter Konflikt auftritt, wird das Problem sofort wieder im dauerhaften Rausch ertränkt.
M. ist keine feministische Künstlerin, die ihre Sexualität zur Kunst macht, wie es Penny Slinger, Valie Export oder Casey Jenkins getan haben und tun. Am bekanntesten zumindest in Deutschland dürfte wohl die Wienerin Valie Export sein, die bereits in den 60ern durch das Tapp- und Tastkino für Aufmerksamkeit sorgte. Hierbei handelte es sich um eine kinoerweiternde Performance, bei der es um die Konfrontation mit der Wirklichkeit geht, die hinter der Leinwand liegt. 33 Sekunden hatten die Teilnehmer*innen Zeit die nackten Brüste der Künstlerin durch zwei Tastlöcher in einem Kasten zu befühlen. Aktionskunst, die, gerade in unserer Gesellschaft, in der sich immer mehr in der virtuellen Welt des Internets abspielt und die realen Menschen hinter den Bildschirmen meist in Vergessenheit geraten, nichts von ihrer Wirkung verloren hat.
M. arbeitet dagegen an einem Projekt über künstliche Nägel. Sexualität ist für M. keine Arbeit, die in der Öffentlichkeit zur Schau gestellt werden soll, sondern das persönliche Ausleben der eigenen Lust. Wie frei sie hierbei jedoch wirklich ist, bleibt irgendwo in den psychoanalytisch geprägten Passagen der Nüchternheit versteckt, in denen M. nach Freud᾽schem Vorbild ihr eigenes Leben analysiert. Glaubt man der Protagonistin, dann ist sie die freie Herrin ihres Körpers und ihrer Lust. Doch gerade in diesen Passagen deutet sich immer stärker das Verdrängte an, von dem der Teufelskreis aus Rausch und Problemen nur hinwegtäuscht.
Diese Technik wird besonders deutlich in der angedeuteten Geschichte mit dem Strap-On: Er ist M.s vermeintliches Instrument der Souveränität und eines der wenigen Themen, wenn nicht sogar das einzige, das sich konstant über den kompletten Roman erstreckt – und trotzdem nur an der Oberfläche kratzt. Das, was in seiner Abstraktion, der Auflösung von geschlechtsspezifischen Rollen und Machtstrukturen, sehr progressiv anmutet, ist hier nichts anderes als eine weitere Maske des Sexismus᾽. Der Strap-On ist nicht das Symbol für M.s sexuelle Souveränität, im Gegenteil, er ist Ausdruck ihrer Unterwerfung. Ein Scheinspiel, in dem der Kurator seine Vormachtstellung für den Akt auflöst, eine unterwürfige Rolle einnimmt und es der Künstlerin am Ende entlohnt; der »starke« Mann, der sich von der »schwachen« Frau unterwerfen lässt. Anders scheint es M. allerdings kaum möglich, sich Gehör zu verschaffen. Wenn eine Frau sich einen Plastik-Penis umschnallen muss, der Phallus also nicht nur aus seiner eigentlich symbolischen Struktur herausgerissen, sondern auch noch als Strap-On manifestiert und fetischisiert wird, nur um dann als kastrierendes Element herzuhalten, sagt das einiges über den Kunstbetrieb aus, in dem sie sich bewegt.
M.s persönliche Sehnsucht scheint dabei ohnehin ganz anders gelagert:
Wenn man darüber nachdenkt, ist es irgendwie traurig, dass man keine eigene Sprache für seine eigenen Perversionen finden muss. Müssten wir das tun, eigene Worte suchen für unsere Lust, sie beschreiben oder sie überhaupt erst erkunden und empfinden, sähe unser Sex vielleicht ganz anders aus.
Der häufige Vorwurf an den Roman, er sei nichts weiter als pornographisch, ist zu eindimensional und missachtet völlig seine existentielle Seite: M. ist eine ums Überleben kämpfende Künstlerin. Ja, M ist pornographisch und lebt zu einem großen Teil von einer sexualisierten Sprache, doch wie sollte man heutzutage, wo Sexualität so stark von pornographischen Vorbildern geprägt ist, unabhängig davon, ob man sie nun konsumiert oder nicht, noch anders über Lust schreiben, wenn nicht pornographisch?
Wer ein feministisches Manifest erwartet, das mit allen Männern, die ihre Machtstellung in der Kulturbranche ausnutzen, abrechnet, wird von M enttäuscht. Doch das ist nicht der Anspruch. M ist eine Darstellung des Lebens als Künstlerin, mit all seinen Herausforderungen; es ist ein Protokoll des künstlerischen Alltagslebens einer Frau, die eben auch Spaß am Sex hat. Der erwartete Feminismus ist vorhanden, genauso wie die Kritik an der Kunstszene, allerdings muss man hierfür genauer und durchaus auch zwischen den Zeilen lesen. M ist der Versuch einer Ermächtigung über die eigene Sexualität.