Mit Gefolgt von niemandem, dem du folgst legt Moderator und Satiriker Jan Böhmermann seine zweite Buchveröffentlichung vor, die jedoch sowohl durch ihren Inhalt als auch durch ihre Form etwas ganz Neuartiges auf dem deutschen Buchmarkt darstellt.
Von Lena Asleh
Twitter ist nicht der Marktplatz der Vielen, sondern der Marktplatz des Relevanten.
In Zeiten der Digitalisierung sind es vor allem die sozialen Medien wie Twitter, die eine Diskursplattform schaffen, auf der verschiedenste Menschen die Möglichkeit haben, zusammenzukommen und miteinander zu interagieren. Im Vergleich zu den größeren Vertretern wie Facebook, Instagram oder TikTok gehört Twitter jedoch zu den eher kleineren sozialen Netzwerken, da es nur bei circa 5 Prozent aller Deutschen regelmäßig zur Anwendung kommt.
Der »Twitterer« Jan Böhmermann, der unter dem Profil @janboehm mittlerweile über 2,3 Millionen Follower:innen gesammelt hat, stellt im Vorwort seines neuen Buch jedoch die wagemutige Behauptung auf, dass sich gerade dort alle »politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Wortführer*innen« des Landes vernetzen, um Einfluss auf die Meinungen, Gedanken und schließlich auch das Handeln der Menschen in der analogen Welt zu nehmen. Oder kurz: »dass sich per Twitter aus dem digitalen Raum tatsächlich die echte Welt verändern und bewegen lässt.« Um genau dieser Wechselwirkung zwischen Wirklichkeit und sozialem Netzwerk auf den Grund zu gehen, hat Böhmermann nun eine Auswahl seiner insgesamt 25.800 Tweets der letzten elf Jahre zu Papier gebracht und in einem sogenannten Twitter-Tagebuch dokumentiert. Die Tweets werden lediglich durch Fußnoten durchbrochen, die die zeitgeschichtlichen Ereignisse und die Personen zum besseren Verständnis der Lesenden in ihren jeweiligen Kontext einordnen.
Gut, also: Es funktioniert!! Dann bin ich ab jetzt ein Twitterer. Was für eine Zeitverschwendung.
So lautet einer von Böhmermanns ersten Tweets, den er am 16. Januar 2009 um 20:42 Uhr absetzte – nur wenige Tage vor Barack Obamas Amtseinführung als erster Schwarzer Präsident, die, ihm zufolge, der Grund für seine Twitter-Anmeldung sei.
Der zaghafte Beginn des Buches ist gekennzeichnet von einer arglosen Leichtigkeit, die zuweilen in banale Sinnlosigkeit abgleitet. Anfänglich sind die Zeiträume zwischen den Tweets noch von längerer und unregelmäßiger Natur, doch im weiteren Verlauf erhöht sich das Tempo, was auch besonders durch die sich farblich abhebenden Layout-Akzente der Buchseiten veranschaulicht wird. Auch die thematische Bandbreite und die Persönlichkeiten, denen sich Böhmermann in seinen Tweets widmet oder mit denen er interagiert, werden vielfältiger und abwechslungsreicher.
Wie das Vorwort selbst ankündigt, werden besonders ab 2015 die Themen der Kurznachrichten zunehmend politischer, die Diskussionen hitziger und die Hasskommentare lauter. Nach dem Terroranschlag in Frankreich schlägt Böhmermann in »100 FRAGEN NACH PARIS« ernstere Töne an, die in einer schockierenden Deutlichkeit verfasst sind, die die Lesenden die Tragweite des Geschehens erkennen lässt, doch dabei keinesfalls den für Böhmermann typischen ironischen – in diesem Fall schon sarkastischen – Ton verlieren (»Hat sich Campino schon geäußert?« oder »Haben wir überhaupt Gewehre, die treffen?«).
Besonders im Zuge der Fluchtmigration, der Debatte um die Kunstfreiheit, der drohenden Zersplitterung der Europäischen Union, des aufkeimenden Rechtsextremismus, der Wahl von Donald Trump und der Anfänge der Corona-Pandemie prallen Meinungen in den mit abgedruckten Kommentarspalten aufeinander, die sämtliche Grenzen einer gesellschaftlich angemessenen Debattenkultur nicht nur maßlos überschreiten, sondern mit Füßen treten.
»Hass bringt Reichweite und Klicks ohne Ende«Durch das ganze Buch hindurch wird deutlich, dass Böhmermann vom anfänglichen tagebuchschreibenden Beobachter zu einem politisch und gesellschaftlich relevanten, tonangebenden Akteur heranreift. Dabei verpackt er seine spitzfindigen Äußerungen und seine scharfzüngige Kritik sorgfältig in den von ihm gewohntem Humor, der die Lesenden häufig zum Schmunzeln bringt, gelegentlich zum Nachdenken anregt und zuweilen sogar ernst werden lässt. Seite für Seite – oder eben Tweet für Tweet – begibt sich der:die Lesende auf eine kurzweilige und unterhaltsame Zeitreise der letzten Dekade, wobei jeder Tweet, fest verankert im Augenblick seiner Realisierung, natürlich immer durch die Brille des Autors gesehen werden muss. Was passiert, wenn die Auszüge oder Zitate aus ihrem Kontext herausgerissen werden, um diese dann professionell und bewusst politisch zu instrumentalisieren, zeigt das Buch übrigens auch: Es zeigt nicht weniger als die Verrohung der Sprache, das Fallenlassen jeglicher Hemmschwellen, blindes Vertrauen auf rechtsextreme Rädelsführer, unkontrolliertes Herausströmen von Wut und Hasstiraden und einen allgemeinen Verfall der Menschlichkeit. Eine Kostprobe: »Dieses kleine von den linksgrünversifften Medien gesteuerte Arschloch! Eigentlich bin ich gegen Gewalt aber dem gehört mal so richtig paar aufs Maul.«
Durch seine polarisierenden Witzeleien, seine provokanten Sticheleien und seine politischen Statements ruft Böhmermann diese radikalen und emotionalen Reaktionen hervor und testet damit immer wieder die satirischen Grenzen aus, um auf eben solche Missstände und Negativentwicklungen innerhalb des vergangenen Jahrzehnts aufmerksam zu machen. Dabei reichen seine Ziele von Chefredakteur:innen, die er aufgrund menschenverachtender Äußerungen zur Verantwortung zieht, über Politiker:innen, denen er das Konzept der Kunst- und Satirefreiheit zu erklären versucht, zu Moderator:innen, die er auf ihre fragwürdige Gästeauswahl hinweist, bis hin zu Musiker:innen, deren antisemitische Verschwörungstheorien er persifliert. Zweifellos ist Böhmermann sich seiner großen Verantwortung und der enormen Reichweite seiner Tweets bewusst, wie man an seiner permanenten Forderung zur Verstaatlichung und Regulierung sozialer Medien, seiner Kritik am institutionellen Versagen bei ihren Aufgaben im digitalen Raum, seinen Vorwürfen an Politiker:innen für ihren fehlenden Einsatz bei der Freilassung von unschuldig Inhaftierten, seinen engagierten Widerstand gegen Rechtsextremismus oder seiner wirkungsvollen Spendenaktionen beobachten kann, die sich wie ein roter Faden durch die gesamte Twitter-Timeline ziehen.
»Wer zu spät kommt, den bestraft das real life.«Durch das Übertragen der Inhalte der modernen Kommunikationsplattform Twitter, die von Schnelligkeit, Impulsivität und von unvorhersehbaren Interaktionen lebt, in das klassische und eher starre Medium des Buches, erzeugt Böhmermann nicht nur einen Medienbruch, sondern durchbricht gleichzeitig auch die Selbstreferenzialität des Kurznachrichtendiensts. Dadurch entsteht eine gewisse Distanz zum digitalen Medium, die eine unabhängige Reflexion des Geschriebenen ermöglicht und es zulässt, einen Schritt von den verhärteten Fronten zurückzutreten und die die Lesenden erkennen lässt, dass stetige Konfrontation nicht zur Lösung kultureller, gesellschaftlicher oder politischer Auseinandersetzungen führen kann. Durch den Medienwechsel vom Digitalen zum Analogen wird das Virtuelle in der Realität manifestiert und somit auch für die Menschen außerhalb der sogenannten »Twitter-Bubble« zugänglich gemacht.
Indem Böhmermann dieser breiten Masse das Wechselspiel zwischen Autor und Publikum vor Augen führt, enthüllt er, wie Tweets auf unterschiedlichste Weise ihre Wirkung sowohl im Internet als auch in der Wirklichkeit entfalten. Hierbei macht die Twitter-Chronik besonders deutlich, dass Hass, Hetze und radikale Positionen schon längst in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen sind und von dieser aus, ohne zu zögern oder über jedwede Konsequenzen nachzudenken, in die Weiten des Internet hinausposaunt werden.
Gefolgt von niemandem, dem du folgst ist keinesfalls Zeitverschwendung – wie Böhmermanns Anfangstweet nahezulegen scheint – sondern ein schonungslos unterhaltsames, gesellschaftlich aufschlussreiches und absolut politisches Zeitdokument, das gleichermaßen die Funktionsweise des Mediums Twitter und die Menschen, die es nutzen, entlarvt und dabei versucht, die Öffentlichkeit für die Gefahren unkontrollierter sozialer Medien zu sensibilisieren. Oder wie Böhmermann schreibt: »Das Twitter-Tagebuch ist Zeugnis sich verändernder Menschen in einem sich verändernden Medium in einer sich verändernden Welt.«