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Kollege Zufall

Zwar ist das Jahr 2018 noch nicht vorbei. Doch Clemens J. Setz᾽ Bot hat schon jetzt beste Chancen, als das verrückteste Buch des Jahres zu gelten. Inwieweit mag man Setz᾽ Tagebuch trauen, wenn es von Nudisten unter den Germanisten berichtet oder von einem Pilz mit ganz besonderem Namen?

Von Stefan Walfort

Normalerweise überzeugt Clemens J. Setz auf ganzer Linie. Durch seine Bücher flattern Papageien auf der Suche nach Schuhen, um letztere zu füttern (Über Papageien). Es gibt Visitenkarten, die aus heiterem Himmel hochinfektiöse Blasen zu werfen beginnen (Die Visitenkarten), von einer seltsamen Krankheit befallene Kinder, die bei jedem, der sich ihnen zu nähern wagt, Übelkeit auslösen (Indigo), von Stalkern heimgesuchte Stalker (Die Stunde zwischen Frau und Gitarre) und viel Überraschendes mehr. Setz’ Ideen gehören zum Interessantesten, das die deutschsprachige Literatur derzeit zu bieten hat. Gekonnt spielt der Grazer Germanist und Mathematiker auf unterschiedlichsten Klaviaturen: Epische Großformen beherrscht er ebenso wie Kurzgeschichten und Gedichte, auch wenn manche Setzperten unken, dass, was er als Lyrik verkaufe, doch bloß zu Strophen gebrochene Prosa sei.1 Konsequenterweise hat Setz inzwischen auch die Dramatik für sich entdeckt, sind doch seine Romane ohnehin immer schon stark dialogisch strukturiert. Und wer bereits die Vereinte Nationen-Inszenierung am DT gesehen hat, wird vermutlich festgestellt haben, dass Setz’ Zweifel, ob ihm szenisches Schreiben überhaupt liegt, gänzlich unbegründet sind. Inzwischen hat Theater heute ein zweites Drama mit dem Titel Die Abweichungen abgedruckt. Ab November 2018 wird es am Stuttgarter Kammertheater zu sehen sein. Ein drittes, so verrät er im Interview in derselben Ausgabe, sei darüber hinaus auch schon in der Mache.

Buch


Clemens J. Setz, herausgegeben von Angelika Klammer
Bot. Gespräch ohne Autor
Suhrkamp: Berlin 2018
167 Seiten, 20,00€

 
 

Unabhängig von der Gattung ist Setz᾽ Steckenpferd vor allem die Autofiktion. Verweise auf die eigene Person schmuggelt er manchmal dezent und auf den ersten Blick kaum erkennbar in seine fiktionalen Welten hinein. In Die Stunde zwischen Frau und Gitarre tritt beispielsweise eine Figur namens Markus C. Haase auf, »hinter dessen Namen, wie an anderer Stelle hinter einem als ›sanftmütig‹ beschriebenen Hasen, sich Clemens (sanftmütig) Setz (kroatisch/slowenisch für Hase) verbirgt«.2 Manchmal gibt sich ein Alter Ego aber auch expliziter zu erkennen – wie in Indigo, wo ein Mathelehrer namens Clemens Johann Setz in Verdacht gerät, einen Menschen brutal ermordet zu haben. Schon früher sei die Figur sehr unsympathisch gewesen, so behauptet ein ehemaliger Schüler. Wegen permanenter Trunkenheit während der Arbeit habe man sie schließlich aus dem Schuldienst entfernen müssen. Da der real existierende Autor in den letzten Jahren mit so viel Wagemut und einer Menge teils ziemlich grotesker Einfälle fasziniert hatte, war die Vorfreude entsprechend groß, als feststand, dass 2018 ein neues Experiment aus dem Hause Setz᾽ zu erwarten sei.

Lauter Ungereimtheiten

Auch die Verlagsankündigung zu Bot klang vielversprechend: Es gebe ein Interview, doch

keine natürliche Person steht hier Rede und Antwort, sondern eine Art künstliche Intelligenz, [Setz᾽] Millionen von Zeichen umfassendes elektronisches Tagebuch – die ausgelagerte Seele des Autors, mit anderen Worten: ein Clemens-Setz-Bot. Und was der Befragte selbst im mündlichen Gespräch nicht zu verbalisieren vermochte, gibt das Werk allein, völlig losgelöst von seinem Autor, in verblüffender Offenheit preis.

Doch jetzt, da das Büchlein von gerade 167 Seiten vorliegt, zeigt sich: Bot ist trotz der Kürze alles andere als zum leichten Herunterlesen gemacht. Bot irritiert, und zwar enorm – zunächst wegen einer eklatanten Missachtung jedes Bedürfnisses nach Kohärenz. Auf einen Teil ihrer Fragen erhält die Herausgeberin und Interviewpartnerin Angelika Klammer nur Ungereimtheiten als Antwort.

Als Klammer wissen möchte, wie Setz damit umgeht, wenn sein Humorverständnis und das der Leser*innen auseinanderklaffen, speist die interviewte Maschine die Fragende mit einer Traumsequenz ab:

Ich war ein fußballgroßer Fledermauskopf, der nur nach unten blicken konnte. Links und rechts ragten keilförmige Stücke aus meinen Schläfen, wie bei einem Amboss. So hopste ich umher, über eine Brücke, über die Ufersteine eines Baches, über die Türmatten kaum bewohnter, minzig-flaschengrüner Vorstadthäuser. Selbst nach dem Erwachen hielt das Gefühl von Gnade und Vollkommenheit noch eine Weile an.

Wer um Himmels Willen soll daraus schlau werden? Zwischen Frage und Antwort wenigstens irgendeine klitzekleine Relation anzudeuten, wäre doch das mindeste, was zu erwarten wäre. Zum Glück sind solche Mätzchen nach den ersten fünfzig Seiten nur noch Ausnahmen.

Nacktbaden mit Germanisten und Diskussionen über Ich-Auslöschung

Bot irritiert des Weiteren wegen einer Fülle von Anekdoten, bei denen nie gewiss ist, inwieweit sie tatsächlich erlebt oder geflunkert sind. Wiederholt erzählt Setz zum Beispiel von einer germanistischen Tagung in Japan, an der er im November 2016 teilgenommen habe. Eine Website des Österreichischen Austauschdienstes (OeAD) bestätigt eine Einladung Setz᾽ zum besagten Zeitpunkt ins japanische Nozawa Onsen. Doch was ist mit dem angeblich von mehreren Tagungsteilnehmern geäußerten Wunsch, mit ihm gemeinsam in der Sauna zu schwitzen?

Man möchte gefallen, man möchte die Zustimmung des Autors. Man kritisiert ihn und lacht und legt den Arm um ihn. Man möchte mit ihm in eine der heißen Schwefelquellen gehen, wo man mit ihm zusammen nackt sein kann.

So heißt es an einer Stelle. Wenig später gehen die Gäule dann vollends mit ihm durch:

Einige der Germanisten fragen wieder, ob ich bitte mit ihnen ins Onsen gehen werde […], dort seien alle nackt, hurra, und man müsse sich ordentlich ─ und gut sichtbar für die anderen, vor allem die einheimischen Onsenbenützer ─ öffentlich waschen.

Nachhaltig pflanzt Setz seiner Leserin Misstrauen in die Brust. Doch ein paar seiner Angaben lassen sich verifizieren: Wer die Existenz eines Pilzes namens »Ich« für reine Erfindung hält und daher das in Bot angegebene Planted Tank Forum aufsucht, stößt in der Tat auf Diskussionen darüber, wie man Ich-Befall aus Aquarien wieder loswird. Wie Setz Versatzstücke daraus zu Versen verarbeitet, ist grandios. Überhaupt erweist sich Bot als eine Schatzkammer, in der es derart Ungewöhnliches zu entdecken gibt, dass es Jahre bedürfte, jeder Spur zu folgen und sich den Kontext des jeweils Vorgefundenen in vollem Umfang zu erschließen. Nebenbei gibt es reihenweise Hinweise auf Literatur aus unterschiedlichsten Epochen, die Setz als Inspirationsquelle dient. Ob von skurrilen wendischen Sagen die Rede ist oder im vierhundertsten Jahr des Gedenkens an den Dreißigjährigen Krieg vom »knödelige[n] Grimmelshausen«, ob von Lieblingsessayisten wie Eliot Weinberger und Guy Davenport oder von Klassikern wie Adalbert Stifter und Gegenwartsautoren wie Christian Kracht – in jedem Fall macht Bot Lust darauf, sich von sämtlichen Genannten das Wichtigste zu besorgen und sich mit all den vielen Entdeckungen an einen gemütlichen Ort zu verziehen.

Setzperiment gescheitert?

Als gescheitert ist Bot also keineswegs zu bezeichnen. Vielmehr verhält es sich mit dem »Zufallsprinzip«, nach dem Setz᾽ Tagebücher durchforstet wurden, ein bisschen so wie mit der Maschine aus R.C. Phelans Kurzgeschichte Gibt es mich überhaupt? Dort lässt eine Ghostwriting-Apparatur mit Unmengen an Texten, die sie rund um die Uhr ausspuckt, ihren Besitzer als Bestseller-Autor erscheinen.

Im Grunde setzt diese Maschine nur eine »alte Theorie« – effektiver als ihrer ursprünglichen Überlieferung nach – in die Praxis um: die »Theorie von den zehn Affen, die man an zehn Schreibmaschinen setzt und willkürlich drauf lostippen läßt […]. Sie läuft darauf hinaus, daß die Affen nach Millionen Jahren Shakespeares sämtliche Werke geschrieben haben würden, natürlich zusammen mit Trillionen Seiten vollkommenen Blödsinns«.3 Setz ist diese Theorie alles andere als unbekannt. Auch ihr hat er bereits ein Gedicht gewidmet (Theorie der Dichtung). Es stellt die Frage, wie innovativ Autor*innen noch zu arbeiten vermögen bei all dem längst vorhandenen kulturellen Vorrat. Wie Setz᾽ Gesamtwerk und auch Bot wieder beweist, lässt sich aus Eigenem, Gefundenem, ein wenig Nonsens und viel Experimentierfreude immer wieder Neues generieren, das lesenswert ist. Wer Bot nicht gleich nach den ersten Seiten verbannt, wird letztendlich doch noch reichhaltig belohnt.

  1. Vgl. Reichmann, Wolfgang: Clemens J. Setz. In: Kupczyńska, Kalina (Hg.): Junge und jüngere Literatur aus Österreich. München 2017, S. 155f.
  2. ebd., S. 161.
  3. Phelan, R.C.: Gibt es mich überhaupt? Übers. von Berisch, Karl. In: Der Monat, H. 147 (1960), S. 45.


Metaebene
 Autor*in:
 Veröffentlicht am 5. November 2018
 Kategorie: Belletristik
 Titelbild: Mikrofon von Macb3t via pixabay CC0
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