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2 Stimmen, 1 Roman
Traumatisierte Jugend

2 Stimmen, 1 Roman: Helene Hegemann ist wieder da – sie publiziert ihren zweiten Roman Jage zwei Tiger, der etwas Abstand zu
Axolotl Roadkill nimmt, wohl aber rebellisch und schockierend wirken soll. Gelingt ihr mit der Milieustudie über Jugendliche als Teil reicher Kunsteliten dennoch eine Weiterentwicklung? Laura Lampings Urteil für LitLog.

Von Laura Lamping

Erich Maria Remarque, Wolfgang Borchert, Günter Eich, Bertolt Brecht, Paul Celan, Nelly Sachs, Ilse Aichinger – das sind nur einige der Autoren, die in ihren literarischen Werken die grausamen Erlebnisse beider Weltkriege verarbeiteten. Im Jahr 2013 muss diejenige Literatur, die sich der heutigen jungen Generation widmet, nicht weniger traumatische Erfahrungen skizzieren – so offenbar die gewagte These von Helene Hegemann. Denn wie sonst wäre es zu verstehen, dass einige Charaktere in ihrem neuen Roman Jage zwei Tiger ganz beiläufig Interesse an Weltkriegen äußern, wenn nicht als subtile Andeutung der Autorin, die von ihr präsentierten Einzelschicksale als Zeichen einer Zeit zu lesen, die auf eine andere Weise jugendliche Traumata hervorbringt?

Traumatisierte Jugend in Post-Weltkrieg-Zeiten

Hegemann erzählt von drei Teenagern, die aufgrund verschiedener Erlebnisse in ihrer Kindheit nicht mehr zur Normalität des Lebens im 21. Jahrhundert zurückkehren können. Kai verliert nach dem gemeinsamen Autounfall mit seiner Mutter, bei dem sie ums Leben kommt, jeglichen Glauben an die Sinnhaftigkeit seiner bisherigen Existenz. Doch nicht Trauer ist der Auslöser, nein, denn die emotionale Bindung zu seiner mit Alkoholproblemen behafteten Mutter war längst defekt. Auch sein in »präpubertären Lovelandphasen steckengebliebener« Vater kann diesen Mangel nicht durch väterliche Fürsorge ersetzen.

Buch-Info


Helene Hegemann
Jage zwei Tiger
Roman
Carl Hanser Verlag: München,
320 Seiten, 19,90€
E-Book: 15,99€

 
 
Cecile lebt getrennt von ihren reichen Eltern in Eliteinternaten und leidet ebenfalls unter einem Defizit an familiären Zugehörigkeitsgefühlen und fehlender parentaler Zuneigung. Sie lernt, sich selbst zu erziehen und mit ihren sadomasochistischen Neigungen fertig zu werden. Und Samantha, die als Zirkuskind bereits am Rande der Normalität situiert wird, verliert ihren Unterarm und fühlt sich von den gutbürgerlichen Ferienkindern als anders und gefährlich beurteilt.

Wie in ihrem viel diskutierten Romandebüt Axolotl Roadkill präsentiert Hegemann auch in ihrem zweiten Roman die jugendliche Empfindung von der Ungerechtigkeit und der Sinnlosigkeit des Lebens, die zur existenziellen Suche wird. Kai, Cecile und Samantha durchleben aus dem Gefühl heraus, anders zu sein, jeder auf seine Art eine Entfremdung von der Event-Gesellschaft ihrer Elterngeneration. Entgegen der kalten, künstlerischen Selbstinszenierung fordert die junge Generation wahre Authentizität und Lebendigkeit, die sie in Form von »psychedelischer Rockmusik« und aussagekräftigen Outfits findet. Folkloristisch wird zum abwertenden Schlagwort für das geheuchelte Interesse an jeglicher Andersartigkeit; das Verhalten der elitären Gesellschaft mit ihren ´Lifestyles´ wird als eigentlich »stillos« entlarvt. Selbst die Klassenkameraden werden beschuldigt, nichts Traumatisches erlebt zu haben und daher den »normativen Klischees« entsprechend zu denken und zu handeln.

»Hardcore, oder? Aber irgendwie auch geil.«

Wohl ganz nach dem Motto ´Alles was uns nicht tötet, härtet uns ab´ wird zur Rebellion aufgerufen. Der Körper wird zum letzten Ort der Selbstbestimmung degradiert, über den die Befreiung des Individuums aus der Gefangenschaft des Universums, des bürgerlichen Milieus und des eigenen Ichs erfolgen soll. Kein Wunder also, dass Essstörungen allgegenwärtig sind, der Drogenkonsum alltäglich ist, Selbstverstümmelung keinen Schock hervorruft und jeder der drei Protagonisten schon einmal über Selbstmord nachgedacht hat. Brutalität erhält charismatische Züge und wird unbegreiflicherweise als »Kompromisslosigkeit der Jugend« gedeutet. Die Charaktere werden dabei als sympathisch inszeniert: Ihre betonte Individualität und Andersartigkeit will der Text als Einzigartigkeit, Echtheit und Erhabenheit verstanden wissen.

Es ist an dieser Stelle fast unnötig zu erwähnen, dass Cecile zu den weniger durchgeballerten Charakteren in diesem Roman gehört, aber sehr sympathisch ist. Und ja, scheiße, apropros Roman.

Helene Hegemann auf der Jagd nach radikalen Extremsituationen

Es ist klar, Hegemann will soziale Normen, Institutionen und Denksysteme aufbrechen, die angesichts der Realität von ´extremen Lebenssituationen´ untauglich und destruktiv erscheinen mögen. Doch eine überzeugende, differenzierte und wohl portionierte Kritik misslingt. Der unbedingte Wille von Extremität und Radikalität und der gleichzeitige Wunsch nach Erhabenheit beeinträchtigen den Stil und die Erzählsituation. Die Aktionen der Protagonisten sind weder evident noch motiviert. Zu oft vermischen sich ihre Stimmen mit den – häufig sarkastischen – Einschüben der Erzählstimme, die überdies noch eine metanarrative Ebene einfügt, die gekünstelt wirkt. Diese Kommentare bilden einen stilistischen Widerspruch zur verbalen und non-verbalen Extremität auf der Handlungsebene. Wenn eine Zirkusziege im Wald nahe der Unglücksstelle aus Kais Perspektive als ´surreales Bild´ beschrieben wird, er selbst von »Übersprunghandlung von Normalitätaufrechterhalten« spricht oder das pflichtbewusste Verhalten »des Kindes Vater« Detlev mittels einer stilistisch hochtrabenden Beschreibung (»nur in der Illegalität und der Aufrechterhaltung kultureller selbstzerstörerischer Gesten überlebenden, hochreflexiven Punktfraktion«) als schlicht sozial-normativer Gestus entlarvt werden soll, bleibt fraglich, wessen Stimme zum Leser spricht.

Sicher, diese sprachliche Souveränität kann im Kontext der betonten Intelligenz des elf- bis dreizehnjährigen Knaben gelesen werden. Immerhin gelingt es der Ziege, Kai in einen tranceartigen Zustand zu versetzen, der ihn wiederum von seinem Körper und damit allem irdischen Leiden löst. Infolge dieses mythischen Reinigungsprozesses fern einer bösen zivilisierten Welt in der unberührten Natur – wie er in dieser Form wohl nur bei Dante beschrieben wurde – wird Kai mit einer tieferen Erkenntnis über das Universum, das Leben und die Stellung des Menschen ausgestattet. Halleluja!

In Wirklichkeit erfolgen Analyse und Reflexion aber weder über Kai noch über Samantha oder Cecile als vielmehr durch die Erzählerin. Die Diskrepanz zwischen der interpretierenden Erzählstimme und den statistenähnlichen Figuren kann auch der Entwurf einer Rahmenhandlung nicht lösen: Die anfängliche, direkte Integration der Erzählerin in die Geschichte bleibt unvollendet und ist daher wenig überzeugend.

Kritik ohne Ziel

Fehlen eigentlich nur noch intertextuelle Bezüge und genrespezifische Spiele, um die Grenzüberschreitung auch im literarischen Sinne perfekt zu machen. Nur so kann die Idee entstanden sein, die Abneigung gegenüber der lebensfernen Schulbildung mit einer Kritik am Genre des Abenteuerromans zu verbinden und den Leser dann auf eine jugendliche Odyssee durch die moderne Gesellschaft der schlichten Schicklichkeit und Scheinheiligkeit zu schicken. Und das Ganze natürlich auf mehreren Realitätsebenen. Und die Weltkriege nicht zu vergessen!

Leider bleiben bei all diesen Ansprüchen die Charaktere des Romans und der Leser auf der Strecke. Die Autorin täte gut daran, nicht zwei Tiger auf einmal zu jagen, sondern ihren eigentlich interessanten Figuren mehr Raum zu geben, um so auch auf Seiten des Lesers Verständnis für deren Lebenssituationen, die Ursachen und Zusammenhänge zu ermöglichen. Nur so könnte tatsächlich der Eindruck von Authentizität entstehen. Stattdessen dominiert die Ironie der Erzählerstimme, die nicht dem Selbstschutz der Protagonisten entspricht, sondern wohl eher einer allgemeinen, dem Werk zugrunde liegenden extremen Bitterkeit Ausdruck verleiht. Hegemanns radikale Kritik an ihrer Elterngeneration lässt keine Differenzierung zu und sucht nicht nach Lösungen – zum Beispiel über den Dialog mit dem Leser. Aber vielleicht bedarf es zunächst einer absoluten Ablehnung, einer Zusammenschau der Trümmer, bevor mit der Aufarbeitung begonnen werden kann. In diesem Sinne dürfen wir erwartungsvoll auf weitere Werke der jungen Autorin hoffen.



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 Autor*in:
 Veröffentlicht am 14. April 2014
 Kategorie: Belletristik
 Portrait of a Tiger von flickrized via Flickr
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