Wir sind alle! Wir sind der Zauberberg! – Das DT wagt sich an Thomas Manns Zauberberg und Malte Gerloff wagt sich ins DT. Zu erfahren gab es einen grellen, verzerrten und lauten Zauberberg, der seiner Vorlage deutlich entgegensteht. Ein Zusammenprall zwischen Hochkultur und Medien-Pop-Trash.
Von Malte Gerloff
Nur keine Scheu! Das Theater Thomas Mann begrüßt seine Gäste gewohnt freundlich! Fühlen Sie sich frank und frei, zu tun und zu lassen, was Ihnen beliebt! Gute Unterhaltung! Hier Ihre Karten, Sie sitzen im Parkett. Ihnen sitzen neun Menschen gegenüber. Sie schweigen, was Ihnen Zeit gibt, die Dinge, die Sie sehen und gerade gesehen haben, zu verarbeiten. Diese neun Menschen sitzen, genau wie Sie, in roten Klappsesseln und schweigen, genau wie Sie. Sie sitzen allerdings auf einer Tribüne, die das Bühnenbild fast zur Gänze ausfüllt, davor sind nur etwas Matsch und ein paar dekorierte Schaufensterpuppen. Ein Zelt im Vordergrund, weitere Zelte hinter und unter der Tribünenstellage sind hindrapiert worden, und über alldem schwebt ein Rundprint des Colosseums. Die einführenden Worte sind gerade gesprochen worden.
Sie sahen einen Darsteller, der den Dialog sprach, in dem Hans Castorp und dessen Cousin Joachim Ziemßen über die krankheitsbedingte Verlängerung des Aufenthalts miteinander parlieren. Gesprochen wurde der Dialog von einer Person, die dabei durch die Reihen stolperte, wobei geschehen musste, was letztlich auch geschah: lustige Verwicklungen mit den Körperteilen der anderen Darsteller und Slapstick-Einlagen, die das Gesagte konterkarierten. Die Menschengruppe auf der Bühne setzte sich um, gruppierte sich neu, formierte sich immer mal wieder anders. Empörte sich über den stolpernden und polternden Kretin im Theater.
Nun wird aber geschwiegen! Was Sie weiterhin dazu anhalten könnte, sich die Plakate, die seitlich über der Loge angebracht worden sind, genauer anzusehen: »Wir werden doch eh nichts ändern!« heißt es links von Ihnen, rechts ist folgendes auf das Laken gepinselt worden: »Noch nicht mal hier sind wir noch wir selbst!« Hm. Das sagt Ihnen wahrscheinlich im Moment gar nichts. Aber immerhin könnte Ihnen bis jetzt aufgefallen sein, dass eine Person zwei Figuren des Romanpersonals gesprochen hat. Ein Eindruck, der sich erst in einem vagen Gefühl ausgedrückt haben dürfte – es sei denn, Sie sind so textsicher, dass man davon sprechen könnte, dass Sie ihn in- und auswendig kennten. Somit ist eine erste Auflösung der Figurenstruktur des Romans bereits erfolgt und der Eindruck dürfte sich nach der Schweigepause noch verstärken, da dies nun auch auf die anderen Figuren und Darsteller ausgedehnt werden wird. Und so dürften auch Sie damit beginnen, die einzelnen Sprecher den jeweiligen Sprechakten der Figuren des Romans zuzuordnen, im Verlangen den Effekt der Dekonstruktion wieder rückgängig zu machen. Vielleicht hat Sie der Effekt auch etwas verstört. Aber letztlich werden Sie zu demselben Entschluss kommen, wie Clawdia Chauchat: Wir sind alle! Wir sind der Zauberberg! Wir sind aber auch Hans Castorp! Und alle lieben Clawdia, oder etwa nicht?
Wir sind Hans Castorp! Wir sind Zauberberg? Haare, Arme, Arsch!Hans stellt erneut fest, dass Madame Chauchat fürchterliche Manieren hat, doch schmiss sie diesmal nicht die Türen laut zu, sondern tanzt gerade zu dicken Techno-Beats. Und schreit: Haare! – wirbelt diese umher. Und schreit: Arme! – und schlackert mit diesen umher. Und schreit: Arsch! – dreht sich um und schüttelt diesen wie die Mädchen aus den Musik-Videos der populären Kunst, die im Fernsehen gesendet werden. So werden in den Prätext gewisse Aktualisierungen eingebaut, dies erfasst auch die sprachliche Ebene – anstatt lautem Türschlagen eben obszönes Tanzen oder Alltagssprache, die der Hochsprache hinzugefügt worden ist, von sich produzierenden Rezipienten, denn anders kann man die Haltung, die die Vorführung prägte und die kommentierenden Momente der Selbstbespieglung kaum interpretieren, die gerade auf der Bühne abgelaufen sind. Die ähnlich wie ein im Supermarkt angewandtes Prinzip funktioniert, derart, dass, wenn Sie diesen betreten, Ihnen eingangs, wenn Sie durch das Drehkreuz gehen, häufig ein flimmernder Bildschirm entgegenstrahlt, auf dem Sie sich selbst sehen. Dieser soll Ihnen nicht nur deutlich machen, dass Sie kameraüberwacht werden, sondern er soll Ihnen vor allem klar machen, dass Sie jetzt als Käufer handeln, dass Sie im Mittelpunkt stehen, dass Sie reflektieren, was Sie da gerade tun. So auch hier: Ihnen sitzen Menschen in der gleichen Position gegenüber, kommentieren, wenn der erste Gast schon vor der Pause den Saal verlässt, reagieren letztlich sogar auf Zwischenrufe, wie: »Es reicht!« Sie sind damit als nichts anderes als sich produzierende Rezipienten zu verstehen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden wie die, die im Saal sitzen. Und die diese dann dadurch zum Reflektieren anhalten wollen. Also Sie.
Und natürlich sind die Zelte und Plakate als Anspielungen auf die Occupy-Bewegung zu verstehen, eben genau wie die Auflösungen auf der Figurenebene das Motto der Bewegung – We are 99,9 % – symbolisieren soll. Doch damit das funktioniert und damit eine Botschaft gesendet werden kann, mussten eben Aktualisierungen in den Ursprungstext eingebaut werden, dadurch wird allerdings auch eine Spannung zwischen der Romanvorlage und dem Aufgeführten aufgebaut. Die noch weitergetragen wird durch die – einhergehend mit der Dramatisierung in der gewählten Form – Verschiebung der zeitlichen Ordnung des Geschehens. Wichtiger sind aber sicherlich die Eingriffe in den Prätext, die nicht nur gewählt worden sind, um eine neue Botschaft zu implementieren, sondern auch, oder wohl eher gerade auch, um die Stimmung des Zauberbergs zu verändern. Durchweht den Roman eher eine Stimmung der leichten Ironie, mit leichter Überzeichnung der Figuren geschaffen, wird hier mit der Parodie aufgefahren: Slapstick, Lazzo oder Repertoire-Elemente eines Stand-up-Comedians. So entsteht auf der Bühne ein grelles, verzerrtes Bild – ja! ein lautes Bild, das der Vorlage deutlich entgegensteht.
Über Machbarkeiten im SchlammVielleicht ein Bild, das bei Ihnen auf Unverständnis trifft, wie es allem Anschein nach bei den vielen im Publikum der Fall war. Sicherlich stellt sich letztlich dabei die Frage, ob die Montage, die wie ein Aufeinanderprallen zwischen Hochkultur und Medien-Pop-Trash wirkte, nur funktioniert, wenn man den Roman kennte – eine Sache, die hier nur vermutet werden kann. Oder ob dieses immerhin avancierte Vorhaben, welches die Möglichkeiten des Deutschen Theaters zu Göttingen zum einen auslotete und zum anderen die Grenzen sichtbar machte, überhaupt funktioniert hat. Kaum sinnbildlicher stellt sich dies dann beim Schneetraum im Matsch dar: Wenn also der junge Hans Castorp – der hier von einer jungen Dame gespielt wird – durch den Schnee irrt, so stolpert die junge Dame nun durch den Matsch, schmiert sich damit ein, fällt hin, tanzt fast völlig mit Dreck eingedeckt, fällt wieder hin, tanzt wieder, fällt, tanzt, beschmiert sich – bis hierhin war es gelungen, dann folgte die Passage, in der Hans Castorp seine Wallungen preisgibt, diese Passage muss sitzen, sie ist das Finale des ersten Teils! Wenn ich nun Ihren Blick auf die anderen Schauspieler lenken dürfte, die weiterhin auf der Tribüne sitzen, während derjenige, der gerade Hans Castorp spricht, in den vorderen Bereich selbiger getreten ist, unterdessen sich die jetzige Madame Chauchat, die bis eben noch Hans Castorp darstellte, sich weiterhin im Matsch suhlt, können Sie selbst bei diesen in der Verstellung erprobten Mienen Bestürzung, fast schmerzhaft wirkende Zuckungen bemerken, die da die Gesichter durchfährt ob der Gelungenheit des Vorgetragenen.
Dies wirft dann die Frage auf, ob man avanciertes Regietheater mit jedem Ensemble spielen kann. Eine Frage, die Sie wie jeder Zuschauer wohl für sich beantworten müssen und welche die meisten Zuschauer des Stücks schon beantwortet hatten, bevor das Stück endigte. So dass Sie am Ende erstaunt feststellen können, dass es keine Sekunde dauert, dreimal in die Hände zu klatschen. Ferner dauert es keine zehn Sekunden, je nach Position des Sitzplatzes, um das Parkett des Deutschen Theaters zu Göttingen zu verlassen. Viel länger dürften auch die Zuschauer nicht bei der Premiere des Zauberbergs gebraucht haben, um ihr Votum über das Gelingen des Stücks abzugeben. Einzelne drückten sich deutlicher aus und gingen früher. Sie brauchen übrigens keine weiteren dreißig Sekunden, um Ihre Jacke entgegen zu nehmen und aus der Tür des Hauptgebäudes zu kommen. Ach so: Wer wissen will, wie es weitergegangen ist, der lese den Roman oder sehe sich das Stück an. Ich hingegen kann mit Fug und Recht behaupten, dass die frische Luft, die man so wie beschrieben in noch nicht einmal einer Minute erreichen und so atmen konnte, eine schöne Sache war. Auch gefiel mir das klare, kühle Wetter und insonderheit sei nochmals die Frische der Luft erwähnt und gelobt.
HIER SIND WIR NICHT MAL MEHR WIR SELBST
Was ist das für eine Kritik? Wieso sagt sie mir nichts über das Theaterstück was ich gesehen habe?
Sehe ich das richtig, dass der Kritiker Herr Gerloff nicht am 2.Teil des Abends teilgenommen hat? Hat er überhaupt teilgenommen? Woher kommen die vielen kleinen Fehler (»Noch nicht mal hier sind wir noch wir selbst!«) und völligen Totalausfälle (der vermeintlichen inhaltlichen Interpretation und) insbesondere im Schreibstil der Kritik. (“Ach so: Wer wissen will, wie es weitergegangen ist, der lese den Roman oder sehe sich das Stück an.”)
Litlog, das war nichts, trotzdem werde ich als interessierter Theatergänger weiter hier lesen und hoffen, das demnächst wieder Leute Kritiken schreiben die sich mit so etwas auskennen oder deren Kritik noch einmal von der Redaktion gelesen und besprochen werden.
Danke.