Lesen bedeutet einen Text in Abhängigkeit seines Mediums zu erleben. Der Londoner Verlag Visual Editions veröffentlicht Bücher mit besonderen Designelementen, die Inhalt und Form auf innovative Weise miteinander verbinden. Was offenbaren diese experimentellen Bücher über das Buch im 21. Jahrhundert?
Von Lena Böse
Stellen Sie sich ein Buch vor… wie sieht es in Ihrer Vorstellung aus? Die Chancen stehen gut, dass Sie sich weder ein elektronisches noch ein Hörbuch vorgestellt haben, sondern ein Buch in der traditionellen Codexform: Text auf Seiten, die zu einem Buchblock gebunden und von einem mehr oder weniger flexiblen Umschlag umfasst sind. Als ich am 7. April auf dem diesjährigen IBG Nachwuchsforum die TagungsteilnehmerInnen bat, sich mit geschlossenen Augen ein Buch vorzustellen, so war das Ergebnis eindeutig: Nicht eine Person im Raum hat sich etwas anderes als einen Codex vorgestellt. Aber ist das nicht erstaunlich?
Was ist überhaupt ein Buch? Aufgrund seiner langen Geschichte und vielseitigen Formen ist es schwierig, das Buch in seiner Gesamtheit zu erfassen. Definieren wir das Buch zur Vereinfachung zunächst als Medium der Kommunikation, so ist zu beachten, was Robert Darnton 1982 in seinem Kommunikationszyklus 1 optisch festhielt: Anders als beispielsweise bei einem Brief, dessen Botschaft relativ direkt vom/von der AutorIn zum/zur RezipientIn vermittelt wird, ist das Buch ein öffentliches Medium, welches das Ergebnis eines Herstellungsprozesses und deswegen einer ganzen Reihe von Entscheidungen unterschiedlicher Personen bildet. Das Endprodukt Buch ermöglicht dem/der LeserIn ein Texterlebnis. Sowohl die Buchform (papierbasiert, E- oder Audio-Format) als auch deren Beschaffenheit (z.B. gebunden oder Taschenbuch, mit oder ohne Illustrationen, sympathische oder unsympathische Sprecherstimme eines Hörbuches) beeinflussen unsere Wahrnehmung des Textes (cf. D.F. McKenzie: »forms affect meaning« 2); oder mit anderen Worten: Wenn wir ein Buch lesen, lesen wir tatsächlich ein Buch, nicht nur den darin enthaltenen Text, sondern auch seinen materiellen Kontext, die physischen Eigenschaften des Buches. 3 Alle Elemente eines Buches beeinflussen unser Nutzungsverhalten genauso wie unser Erlebnis dessen, was dieses Medium vermittelt. All diese Elemente, angefangen mit der Wahl einer Buchform bis hin zu kleinsten Gestaltungsmerkmalen, sind darüber hinaus das Ergebnis eines Entscheidungs- und Herstellungsprozesses und deswegen auch Gegenstand von Forschungen im Bereich der Buchwissenschaft.
Obwohl Formen Bedeutungsträger sind, stellen die meisten Verlage im 21. Jahrhundert den gleichen Text in mehreren Ausführungen bereit, als gebundenes, Taschen-, elektronisches und Hörbuch, sodass die Wahl der Buchform selten vom Text sondern oftmals von den Lesenden abhängig ist. Doch es gibt Ausnahmen, und eine ganz besondere ist der unabhängige Verlag Visual Editions, den Anna Gerber und Britt Iversen 2010 gründeten. Dieser Verlag hat es sich zum Ziel gemacht, mit Büchern das Erlebnis von Geschichten auf neue Art und Weise zu ermöglichen. Visual Editions hat bisher drei Essay-Hefte und sechs Romane in kleinen Druckauflagen herausgebracht. Zusammen mit Google Creative Lab hat der Verlag außerdem Editions At Play gegründet und in Kooperation drei ›undruckbare‹ Bücher in digitaler Form herausgegeben, darunter Reif Larsens Entrances & Exits, ein Buch, dessen Geschichte mithilfe von Street View Bildern erzählt wird, und All this Rotting von Alan Trotter, ein Buch über Verlust, dessen Text zuerst instabil wird und sich dann auflöst. Beides sind gute Beispiele für sogenannte »enhanced« (»erweiterte« oder »gesteigerte«) E-Books, die derzeit unter elektronischen Büchern noch die Ausnahme, nicht die Regel sind.
Im digitalen Raum erscheinen die Möglichkeiten unbegrenzt, aber wie handhabt Visual Editions die traditionelle Codexform? Tatsächlich überschreitet der Verlag auch beim gedruckten Buch etablierte Grenzen und kreiert so experimentelle Formate. Zwei gute Beispiele dafür sind Marc Saportas Composition No.1 und Jonathan Safran Foers Tree of Codes. Ersteres erschien 1962 in französischer Originalausgabe 4 und erhielt von Visual Editions 2011 mit einer gelb-rot gehaltenen Schachtel ein frisches Design. Wird das farbenprächtige Äußere geöffnet, so wird der/die LeserIn eines ungebundenen Buchblockes gewahr, der ihm/ihr im Sinne von Hypertextualität die Möglichkeit gibt, den Verlauf der Geschichte selbst zu bestimmen. Statt des ursprünglichen Vorworts von Saporta – in dem er die Lesenden dazu aufforderte, die Buchseiten wie Spielkarten zu mischen 5 – liegt der Ausgabe von Visual Editions unter anderem Salvador Plascencias humoristische Übersicht »The Anatomy of Your Favourite Novel« bei. Zum Buchrücken heißt es hier: »The spine […] secures that no chapters are left behind at coffee shops or on those long, nomadic, horseback rides known as the crusades.« 6 Hiermit wird die durch die experimentelle Form dieses Buches entstandene Problematik für die Lesenden angesprochen. Zwar ergeben sich ohne Bindung eine ganze Reihe an Erlebnismöglichkeiten für Saportas Roman (vom Gruppenlesen bis zum Happening), aber es besteht gleichzeitig auch die Gefahr Teile des Romans zu verlieren.
Das zweite Beispiel ist der Roman Tree of Codes von Jonathan Safran Foer, der 2010 bei Visual Editions erschienen ist. Tree of Codes mag von außen wie ein ganz ›normales‹ Buch wirken, doch wie bei Composition No.1 verbirgt sich im Inneren etwas Außergewöhnliches. Jonathan Safran Foer hat diesen Roman nicht geschrieben, sondern den Text aus einem anderen Buch, nämlich Bruno Schulz’ The Street of Crocodiles, herausgearbeitet, 7 indem er so viel vom Text wegnahm, bis sein eigenes Werk stehen blieb. Das Besondere an Tree of Codes ist zudem, dass die Entstehung des Textes durch Ausstanzungen sichtbar gemacht wurde; jede Seite besteht aus mehr Löchern als Papier und trägt nur fragmenthafte Textbruchstücke. In seiner Dissertation Metamedia bezeichnet Alexander Starre Foers Buch deswegen auch als »bibliographic sculpture«. 8 Die Form unterstützt die Distanz der Figuren, die verzweifelt versuchen eine Verbindung zueinander zu finden. Nach der Veröffentlichung des Romans hat Visual Editions allerdings mehrfach Nachfragen von LeserInnen erhalten, die sich unsicher waren, wie man das Buch überhaupt lesen sollte. 9 Der Verlag schreibt jedoch keine Lesart vor und überlässt es den Lesenden zu entscheiden beispielsweise Seite für Seite oder wie in einer Momentaufnahme alle sichtbaren Textbruchstücke (also auch die von anderen Seiten durch die Löcher erkennbaren Wörter) zu lesen.
Composition No.1 und Tree of Codes sind Bücher, die einerseits den Einfluss des digitalen Textes reflektieren, etwa in Eigenschaften wie Flexibilität oder individuellem Leseerlebnis, und andererseits mit Eigenschaften brechen, die üblicherweise mit dem Buch aus Papier verbunden werden, wie z.B. eine gewisse Einheitlichkeit, einem gebundenen Buchblock oder textueller Linearität. Beide Bücher öffnen neue Lesemöglichkeiten, bringen allerdings auch neue Herausforderungen für die Leserschaft mit sich. Natürlich gibt es Bücher in experimentellen Formaten, für die der Begriff »enhanced books« passend erscheint, auch von anderen Verlagen. Zwei besonders schöne Beispiele sind S von J.J. Abrams und Doug Dorst, ein Buch, das viele zusätzliche Materialien nutzt (z.B. Postkarten oder Zeitungsausschnitte, die über das Buch verteilt zwischen den Seiten liegen und herausnehmbar sind) und in dem mit Marginalien (Randbemerkungen) parallel zum Haupttext eine zweite Geschichte erzählt wird, und The Thorn and the Blossom von Theodora Goss, ein Buch, dessen Leporello-Format materiell die Erzählweise aus zwei Perspektiven reflektiert.
Bücher in experimentellen Formaten überschreiten Grenzen und zeigen gerade dadurch auf, was die aktuellen Konventionen in der Buchherstellung sind. Die bisher genannten Bücher haben alle eins gemeinsam: Es ist schwierig, sie ohne Verluste am Erlebnis der Geschichte in den digitalen Raum zu transferieren. Obwohl medienspezifische Textproduktion die Basis für die Unterscheidung zwischen Kunst, Literatur, Musik und Filmbranche ausmacht, scheinen vor allem in der Buchwelt bisher nur selten die Möglichkeiten der Verbindung von Text und Medium, die über die subtilen traditionellen Aspekte wie Typographie und Layout hinausgehen, ausgeschöpft zu werden. Experimentelle Formate, die eine Brücke zwischen Inhalt oder Geschichte und materieller Buchform schlagen, stellen leider, wie der Begriff schon suggeriert, die Ausnahme in einem Meer von Konventionen dar. In Anbetracht dessen ist es nicht verwunderlich, dass das Buch bereits seit dem 19. Jahrhundert immer wieder für beinahe tot erklärt wird. 10
Basierend auf dem vorgestellten Verlag Visual Editions könnte man das Buch im 21. Jahrhundert als Medium definieren, durch das man textbasierte Geschichten erleben kann. Dabei ist eine breite Textdefinition gemeint, die weder Bilderbücher noch enhanced E-Books ausschließt. Es gibt heute schon E-Books, die audio-visuelle Effekte nutzen oder als Apps konstruiert sind, wodurch sich für eine Definition des Buches als Medium eines spezifischen Erlebnisses die Herausforderung ergibt, das Buch klar zu Games oder Filmen abzugrenzen. Allerdings sollte es der erste Schritt in Richtung einer solchen Definition sein, zunächst zu erforschen, was genau ein Leseerlebnis eigentlich ist und wie es sich vom Erlebnis anderer Medien unterscheidet. Andererseits sollte, im Hinblick auf experimentelle Formate, jede Definition des Buches verdeutlichen, dass typische Merkmale (eines gedruckten / elektronischen / etc.) Buches eben nur das sind: typisch, nicht obligatorisch. Obwohl einerseits die Entstehung des E-Books nicht spurlos am papierbasierten Buch vorbeigegangen ist und das E-Book heute eine anerkannte Alternative zum Codex sowie einen Teil des vielfältigen Gesamtverständnisses vom Buch als abstrakter Kategorie bildet, ist das traditionelle, gedruckte und gebundene Buch andererseits immer noch allgegenwärtig und bestimmt unser Grundverständnis dieses Mediums entscheidend. Derzeit hat also noch kein wesentliches Umdenken auf dem Buchmarkt stattgefunden, höchstwahrscheinlich weil sich vor allem das belletristische Buch gegen das E-Book behauptet hat und nicht wie seine Schwester, die Enzyklopädie, oder sein entfernter Cousin, das Telefonbuch, am Abgrund seiner Existenz steht. Es ist müßig über die Zukunft zu spekulieren, aber in jedem Fall ist es auch für die Forschung zur Vergangenheit des Buches von Wert, die Frage zu stellen: Was erfahren wir über das Buch, wenn wir es nicht primär als Träger von Geschichten sondern stattdessen als Voraussetzung für ein spezifisches Leseerlebnis begreifen?