Vetternwirtschaft und Korruption im Wettstreit mit Moral und Solidarität. So ließe sich Dürrenmatts Der Besuch der alten Dame beschreiben. In leicht abgeänderter Form bringt ihn Felix Rothenhäusler auf die Bühne des Deutschen Theaters in Göttingen. Ob er Imke Wittig damit überzeugen kann?
Von Imke Wittig
Gemeinde von Güllen […] Es geht nicht um Geld, es geht nicht um Wohlstand und Wohlleben, nicht um Luxus, es geht darum, ob wir Gerechtigkeit verwirklichen wollen.
»Gerechtigkeit« fordert die Milliardärin Claire Zachanassian, die zu Besuch in ihrem vollkommen verarmten Heimatdorf Güllen ist, um den Einwohnern ein unmoralisches Angebot zu machen: Eine Milliarde für die Ermordung ihres ehemaligen Geliebten Alfred Ill, der sie 40 Jahre zuvor hochschwanger sitzen ließ und sie somit zur Flucht aus dem kleinbürgerlichen Ort zwang. Jetzt stehen die Bürger vor einer schwierigen Entscheidung: Werden sie einen Mord begehen um Güllen eine Zukunft zu geben?
Der Besuch der alten Dame, eine tragische Komödie von Friedrich Dürrenmatt, wurde am 29. Januar 1956 uraufgeführt und erlebte jetzt eine Neuinszenierung am deutschen Theater in Göttingen.
Technik, Ton und Bühnenbild in der Inszenierung von Felix Rothenhäusler waren zwar kaum vorhanden, setzten das Stück aber dennoch gekonnt in Szene. Durch die fehlende Ablenkung blieb der Fokus stets auf die Darstellungsweise der Schauspieler gerichtet, die es mühelos schafften, die Zuschauer in ihren Bann zu ziehen. Die spärlich eingesetzte Musik war stets passend und untermalte die Szenen in ihrer jeweiligen, teils komischen, teils düsteren Stimmung.
(Un)willkommener Besuch aus anderen StückenLeider wurde der Inhalt des Dramas an einigen Stellen durch zusätzliche Szenen erweitert, was zu Irritationen führte. Auch wenn die ursprünglichen Szenen aus Der Besuch der alten Dame gekonnt wiedergegeben und in Szene gesetzt wurden, so fragte man sich häufig, was die Einschübe von Szenen anderer Dramen wie Romeo und Julia in diesem Schauspiel zu suchen hatten. Ließ dementsprechend auch der inhaltliche Zusammenhang zu wünschen übrig, so schafften es die Schauspieler trotzdem, die interessierte Stimmung des Publikums aufrecht zu erhalten – wenngleich sich dieses scheinbar stets nach einer Rückkehr zum eigentlichen Geschehen sehnte.
Andere Aspekte des Dramas hingegen, wie die Auftritte der zwei blinden Eunuchen und die Erwähnung der zahlreichen Ehemänner der Milliardärin, wurden dafür bedauernswerter Weise ausgelassen oder vernachlässigt. Diese wären jedoch wichtig gewesen für die Vermittlung der subtil grotesken Situation, die Dürrenmatt mit seinem Drama erschuf. Das Publikum schien trotzdem durchgehend gut unterhalten zu sein. Viele humoristische Elemente schafften einen gekonnten Kontrast zwischen bedrohlicher Stimmung und ironischer Komik.
Mit einer Dauer von etwa einer Stunde und fünfzig Minuten war eine Pause zwar nicht zwingend notwendig, wäre aber wünschenswert gewesen um dem Verlauf des Stückes konzentrierter folgen zu können. Dennoch hat Rothenhäusler durch den passenden Einsatz von Ton und Technik und die gekonnte Auswahl seiner Schauspieler eine spannende Inszenierung geschaffen. Diese wird die Erwartungen der an klassischer Darstellungsweise interessierten Zuschauer möglicherweise enttäuschen, den experimentierfreudigen Theaterbesucher aber begeistern!