»Das Internet gefährdet die Kultur«, tönt es landauf, landab aus den Feuilletons. Literatur wird nicht mehr fundiert reflektiert, sondern verkommt zur Ware, die gerankt oder geliked und allenfalls stümperhaft von Leuten wie dir und mir in Kurzrezensionen zerredet wird. Stimmt das? Die Auseinandersetzung in einer Leserunde bei der Social Reading-Seite LovelyBooks legt nahe, dass die Antwort darauf alles andere als so pauschal ausfallen kann.
Von Katharina Lukoschek
Kulturpessimisten neigen ja gerne dazu, uns das Internet anhand von wuchtigen Dystopieentwürfen und sublimen Naturmetaphoriken (Datendschungel, shitstorm/social storm, Informationsflut) zu erklären und vom Ende der Kultur zu orakeln. Abgesehen von der globalen Dimension, die der NSA-Skandal erzeugt hat, verortet man im vergleichsweise speziellen Feld des Kulturjournalismus die Wurzel des Übels meist beim ›Amateur‹, dem Vertreter einer erst durch das Internet zu einer ernsthaften Bedrohung avancierten Spezies Mensch, die sich durch Dilettantismus auszeichnet und die sich anmaßt, Kulturgüter jeder Art im digitalen Rahmen einfach so zu kommentieren. Am wenigsten bleibt davon die Literatur verschont; sie wird, so hört man, von einem Mob aus amazon-Rezensenten, Blogger-Vandalen und schlechten Fan Fiction-Schreiberlingen gnadenloser ad hoc-Kritik unterzogen.
Einerseits sind uns diese »Standardsituationen der Technologiekritik« (Kathrin Passig) nur zu gut bekannt und mittlerweile eher ein alter Hut. Andererseits halten sich diese Bekundungen des Unbehagens hartnäckig an der Oberfläche der Polemik und man ist geneigt, sich die Frage zu stellen: Warum eigentlich? Ist vielleicht doch etwas dran an den Vorwürfen? Ist die Beschäftigung mit Literatur im Internet wirklich so substanzlos, wie viele behaupten?
Vor kurzem habe ich mich dazu entschlossen, dieser Frage nachzugehen, und mich bei LovelyBooks angemeldet, Deutschlands beliebtester Social Reading-Plattform, wo rund 110.000 Amateure über Literatur reden – der Ort schlechthin, um herauszufinden, ob sich im Internet tatsächlich die versprochenen Abgründe auftun.
Der Einstieg – Profil, Orientierung, AutorenpräsenzAm Anfang steht bei LovelyBooks ein administrativer Akt: man muss Mitglied werden. Wie in jedem sozialen Netzwerk legt man auch hier ein Profil an, wobei dieses natürlich die Lesegewohnheiten des Users in den Mittelpunkt stellt. Ich kann mir Bücherregale einrichten, Bücher als gelesen oder ungelesen markieren, bewerten und/oder rezensieren und angeben, was ich zurzeit lese. Nachdem ich diese Formalia erledigt habe, mache ich mich auf die Suche nach dem Ort der Kommunikation und orientiere mich an den verschiedenen Genres, die LovelyBooks vorschlägt und entscheide mich für ›Krimi&Thriller‹. Meine Aufmerksamkeit richtet sich sofort auf den aktuellsten Post: die Ankündigung einer »Leserunde zu ›Todestrieb: Kriminalroman‹ von Nora Schwarz«. Das scheint ja genau das zu sein, was ich gesucht habe: eine Gruppe von Lesern, die sich zur gemeinsamen Lektüre eines Buches zusammengefunden haben.
Beim Durchforsten der Angaben wird mir recht schnell klar, dass es die Autorin Nora Schwarz höchstpersönlich ist, die mich und die ganze Leserschaft dazu einlädt, ihr Buch zu lesen und gemeinsam mit ihr zu besprechen. Wie? Mit der Autorin selbst über ihr Buch sprechen? Seit wann wollen Autoren dabei sein, wenn ihr Buch auseinandergenommen wird? Autorenleserunden, so stellt sich heraus, scheinen bei LovelyBooks keine besondere Ausnahme darzustellen, ganz im Gegenteil: Autoren können ihre eigenen Profile anlegen und das Angebot der gemeinsamen Diskussion so oft und wie sie wollen nutzen. Davon haben mir die Kulturpessimisten aber nichts erzählt … Ich frage mich im Stillen, wie viele von ihnen nicht gerne mal einen Plausch mit ihrem Klopstock oder ihrem Stifter gehalten hätten (auch wenn das wahrscheinlich keiner zugeben würde) und beginne, mich in die Leserunde einzuarbeiten.
Buchverlosung und die erste LesephaseEs ist die Autorin selbst, die die Leserunde einleitet: Nora Schwarz kündigt an, 25 Exemplare ihres Mannheimer Regionalkrimis unter denjenigen Usern zu verlosen, die die Frage beantworten, was sie sich von ihrem Krimi erwarten. Mich ereilt gleich die nächste Überraschung: Ich habe die Chance auf ein kostenloses Buch? Und ich muss dafür nicht einmal eine Frage richtig beantworten, sondern einfach nur meine Meinung abgeben? Verlockender könnte das Angebot nicht sein!
Allerdings komme ich nicht viel später zu der Einsicht, dass ich nicht die leiseste Ahnung habe, was ich antworten könnte. Soll das Buch spannend sein? Das ist wohl recht platt. Sollen die Charaktere geheimnisvoll sein? Wo sonst, wenn nicht in einem Krimi! Soll der Plot eine unvorhergesehene Wendung haben? Auch nichts Besonderes. Nach längerem Grübeln fällt mir etwas ein, was ich aber angesichts der vielen anderen, mitunter ziemlich kreativen Antworten nur für mittelmäßig halte. Die anderen User scheinen in dieser Hinsicht wesentlich erfahrener und reflektierter zu sein. Trotzdem poste ich und warte. – Ein paar Tage später erfahre ich, dass ich eine der glücklichen Gewinnerinnen bin. Ich habe es tatsächlich mit einem Freiexemplar in die Leserunde geschafft.
Wiederum einige Zeit später erhalte ich mein Päckchen. Ein paar der User haben ihr Exemplar des Romans Todestrieb etwas früher erhalten und bereits Eindrücke gepostet, als ich mich das nächste Mal einlogge, um meinen ersten Kommentar zu schreiben. Die erste Lesephase ist bis Seite 92 festgelegt, dem Ende des ersten Großkapitels. Ich schreibe zwei längere Beiträge, einen zu meinem ersten Eindruck nach wenigen Seiten und einen zum empfohlenen Abschnitt. Dabei fällt mir auf, dass einige der anderen Beiträge eingeklappt sind, andere ausgeklappt. So lassen sich also recht einfach Spoiler vermeiden und die anderen Leser scheinen sich auch zuverlässig an dieses Vorgehen zu halten, denn nach der Lektüre der aufgeklappten Posts meiner Mitleser hat das Buch nichts an seiner Spannung eingebüßt.
Als ich meinen ersten Beitrag abschicke, haben andere vor mir schon 64 Statements geliefert. Eine nicht geringe Anzahl stammt von der Autorin selbst. Sie bedankt sich für Lob und Kritik gleichermaßen und gibt Antworten auf Fragen wie zum Beispiel, ob die eine oder andere gelungene erlebte Rede auf eigenen Erfahrungen beruht, ob sie das Ermittlerduo des Romans in einer Fortsetzung aufgreifen wird oder mitunter auch, warum sie bestimmte Stellen so und nicht anders gestaltet. Nora Schwarz stellt sich geduldig, amüsiert und sympathisch lauter Fragen, die dem hochkulturell beflissenen Experten wahrscheinlich eine Gänsehaut den Rücken herunterjagen würden. »Was uns der Autor damit sagen wollte – solche Fragen stellen wir nicht!«, hallt es dumpf aus dem gedanklichen Hinterstübchen der germanistischen Studienzeit. Warum dann wohl an die 2.600 Autoren LovelyBooks aktiv nutzen? Und warum man gerade im expertendominierten Kulturbetrieb so viel Dichterhagiographie betreibt? Literaturarchive heben ja oftmals jedes nur verfügbare Taschentuch, Körperpflegeutensil oder Kleidungsstück aus dem Nachlass eines Schriftstellers auf, nur um es am Ende in einem Schaukasten der Öffentlichkeit mit der Beschriftung zu präsentieren, die ausgestellte Hose habe Schriftsteller XY beim Verfassen seines berühmten Werkes W getragen. Andächtig überinterpretieren in diesem Stil nicht gerade wenige Kenner glaskugelartig die Kaffeeränder auf Manuskripten, deuten den Satz der Handschrift als ausschlaggebend für ihre jeweilige Lesart oder stellen die Schreibmaschine metonymisch für die Geniephase eines Autors in den Mittelpunkt. Intuitiv erscheint es mir angesichts eines solchen Hokuspokus jedenfalls einleuchtender, die Autorin direkt zu fragen. So habe ich zumindest die Chance auf eine plausible Antwort.
Die zweite Lesephase – Amateure können erstaunlich viel Ahnung habenMit steigender Anzahl der Beiträge weiten sich die Kommentare zu dem Buch zu einem eigenen kleinen Kommunikationskosmos aus. Mannheimer, die das Wiedererkennungspotenzial des Regionalkrimis für Anschlussgespräche nutzen, unterhalten sich dabei genauso wie solche, die nicht aus der Gegend stammen. Bisweilen kehrt die Anschlusskommunikation aber auch zurück zum Buch. Während ich weiterlese, um die nächste Lesephase bis zum Ende des zweiten Großkapitels auf Seite 188 zu meistern, verfolge ich die Diskussionen und Kommentare. Mit der Zeit fange ich an, mir darüber Gedanken zu machen, was genau die anderen User eigentlich bewerten und diskutieren. Dabei fällt mir immer wieder aufs Neue auf, wie viele von ihnen ein erstaunliches Fingerspitzengefühl für Figurengestaltung, Plot-Entwicklung, formalästhetische Merkmale wie Sprache oder Metaphorik und vor allem für die Besonderheiten von Krimiliteratur haben. ›Spannend‹ ist dabei ein viel zu unterkomplexes Attribut; wichtiger ist, ob die Figuren glaubhaft und authentisch gestaltet und ihre Handlungen psychologisch plausibel begründbar sind, ob Pointen angemessen platziert wurden oder ob die Sprachverwendung sperrig, absorbierend, kreativ oder eigenwillig ist. Dabei spielt es keine Rolle, ob man hundert oder tausend Wörter schreibt – lakonische Statements stehen neben gedankenverlorenen Reflexionen, manche greifen die Mannheimer »Gosch« auf, manche Beiträge sind penibel auf Ausdruck und Orthographie korrigiert, wiederum andere User zitieren fleißig und wissen sogar gekonnter als manch eine Sockelgröße der Literaturkritik Analyse, Interpretation und Wertung auseinanderzuhalten.
Meine eigenen, verhältnismäßig ausführlichen Kommentare werden sowohl von den anderen Lesern als auch von der Autorin aufgegriffen, zitiert und gegenkommentiert. Es ist tatsächlich ein Gespräch, nur eben zeitversetzt und getippt statt synchron und mündlich geführt. Und es ist sogar fast besser als die face-to-face-Diskussion: Mir fällt keiner ins Wort und ich kann mich ganz konkret auf Gesagtes beziehen (schließlich steht es ja da). Ich muss mich nicht kurz fassen, habe keine Termine, die ich einhalten oder verpassen kann. Nachts um drei steht es mir ebenso frei, meine spontanen Eindrücke zum soeben zu Ende verschlungenen Buch zu posten wie erst am nächsten Tag reflektierter an meinen Beitrag heranzugehen.
Stattdessen schreiben die Leser ihre Rezensionen für andere User oder für sich selbst; schließlich verknüpfen die meisten ihre Lesetätigkeit im Social Reading-Bereich auch mit einer eigenen Ausdrucksform wie etwa ihrem persönlichen Blog und veröffentlichen auch dort ihre Buchbesprechungen. Die amazon-Rezension ist dabei nichts weiter als ein recht emotionsloser Akt des Strg+C/Strg+V.
Fazit: Wovor haben Kulturpessimisten eigentlich Angst?Worum es in einer Leserunde wie dieser geht, ist also weder die oft behauptete, trotzige Abgrenzung eines literarischen Pöbels gegen den hermetisch abgeschlossenen Intellektualismus einer kleinen Kulturelite, noch ist es das, was manche Forscher und Kritiker als Selbstprofilierung des Nobody bezeichnen. Es ist auch kein Kaffeekranz oder Autorenvoyeurismus. Vielmehr hinterlässt die Leserunde den Eindruck, dass es um die Suche nach Gleichgesinnten geht, mit denen man gemeinschaftlich liest und diskutiert, wenn es nun mal keinen Lesekreis am Wohnort gibt. Es ist offenbar auch das Bedürfnis, andere Meinungen und Perspektiven kennenzulernen, auf die man womöglich selbst nicht gekommen wäre, seien es die der anderen Leser oder die des Autors. Dabei und damit verbunden zeigt sich oft der Wunsch, Anknüpfungspunkte zu finden, womöglich Empfehlungen auszusprechen, auf unbekanntere Autoren zu stoßen und vielleicht sogar mit ihnen in Kontakt zu treten, wenn man dieses Jahr peinlicherweise nicht zur Frankfurter Buchmesse oder zur Lesung in Berlin oder München fahren kann. In jedem Fall ist es eine Form, Begeisterung und Kritik über das Lesen sowie das Gelesene zu teilen und vor allem die eigenen Urteile und Vorlieben einer fundierten Reflexion zu unterziehen.
Nachdem ich mit zwei weiteren Lesephasen die Runde abgeschlossen habe, bin ich nun dabei, meine Rezension zum Roman Todestrieb zu schreiben. Seit einigen Tagen sitze in an dem Dokument und feile, suche nach besseren Formulierungen, schlage Zitate nach und überarbeite. Manchmal lese ich die Rezensionen der anderen und muss zugeben, dass deren Ausdrucksformen und Begründungen bisweilen ziemlich geschult und professionell klingen.
Wenn es also das ist, denke ich beruhigt, als ich den Schlusspunkt unter mein kleines Schriftstück setze, wovor Kulturkritiker Angst haben, dann bleibt die Frage berechtigt: »Warum eigentlich?« Und dann poste ich meine Kritik guten Gewissens bei amazon (und außerdem auf dem Blog Spheniscida).
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[…] nichts für mich, denke ich – da schickt mir eine Freundin den passenden Link: “Unter Amateuren” ist der Titel eines Erfahrungsberichtes von Katharina Lukoschek, veröffentlicht auf dem von mir […]