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Literaturverteiler
Branchen Bad Guy?

Der Gründer des Perlentauchers, Thierry Chervel, verrät im Interview, warum »Perlentaucher« eigentlich »Trüffel« heißen sollte, wo das »letzte Wort« im Internet geblieben ist und wieso seine Internetseite für manche Medienmacher gleich nach Krieg und Welthunger zu den größten Plagen der Menschheit gehört.

Von Verena Zimmermann

Verena Zimmermann: Herr Chervel, aus welchem Impuls wurde Perlentaucher eigentlich gegründet?

Thierry Chervel: Eigentlich aus dem simplen Wunsch heraus, Zeitung zu lesen. Die Idee stammt aus der Zeit, als ich Kulturkorrespondent für die SZ in Paris war, also 1995/96. Zu dieser Zeit habe ich für mich selbst das Internet entdeckt: Die Tatsache, dass ich plötzlich deutsche Zeitungen, die es normalerweise nur an bestimmten Bahnhofskiosken zu kaufen gab, ganz bequem an meinem Schreibtisch im Internet lesen konnte, gehört zu meinen Ur-Erlebnissen des Internets. Damals reifte in mir der Wunsch, die Inhalte von Zeitungen online zu bündeln, um die Lektüre im Netz zu erleichtern.

V.Z.: Und wie ist dann der Name »Perlentaucher« entstanden?

T.C.: Eigentlich wollten wir die Seite ja »Trüffel« nennen. In diesem Namen steckt ja auch die Metapher des Suchens und Findens – nur ein bisschen erdiger als »Perlentaucher«. »Trüffel« war dann aber leider schon vergeben – für einen Schokoladen-Laden. Die Idee zum Namen »Perlentaucher« kam mir dann relativ spontan nach einem Marktbesuch im fünften Arrondissement in Paris. Die Idee dahinter: Das Netz hat eine Oberfläche, auf der man surfen kann, aber es hat auch eine Tiefe, in die man tauchen kann.

V.Z.: Welches Selbstverständnis hat der Perlentaucher seit seiner Gründung entwickelt?

T.C.: Wir verstehen uns als Kulturmagazin im Internet. Hauptsächlich haben wir zwei Aktivitäten: In unserer Presseschau verlinken wir auf kulturell relevante Inhalte in den Onlinediensten der deutschen Zeitungen; das hat drei Flügel: Die tägliche Feuilletonrundschau, die Magazinrundschau und die Bücherschau. Zum anderen schreiben und publizieren wir auch selbst Artikel zu kulturellen Themen, aber auch zum etwas weiteren Feld der intellektuellen und politischen Fragestellungen.

V.Z.: In Ihrem Kulturmagazin kommt gerade der Literatur eine besondere Rolle zu. Wie wird Literatur beim Perlentaucher vermittelt?

T.C.: Indem wir die Buchkritiken der großen deutschen Zeitungen in eigenen Worten resümieren. Wir sehen das als Berichterstattung über Berichterstattung, d.h. wir bündeln die Meinungen zu den neusten Büchern. Ab und zu schreiben wir auch selbst Artikel zu Neuerscheinungen – allerdings eher wenige, denn eine so kleine Redaktion, wie wir es sind, kann sich leider nicht mehr leisten. In unserer Rubrik »Vorgeblättert« blättern wir außerdem die Kataloge der Buchverlage durch und stellen in einer Art Vorschau kurze Auszüge der Neuerscheinungen online. Und dann haben wir da natürlich noch »Mord und Ratschlag«, in der Krimis besprochen werden.

V.Z.: Mit Literatur beschäftigen sich ja einige Onlinemagazine. Worin unterscheidet sich Perlentaucher von all den anderen Kulturmagazinen im Netz?

T.C.: Davon gibt es ja mittlerweile in der Tat einige, allerdings unterscheidet sich Perlentaucher von den anderen, indem wir Bezug auf die traditionellen Medien der Zeitungen nehmen. Diese Schnittstelle zwischen alten und neuen Medien ist im Prinzip das, was uns von anderen Internetmagazinen abhebt.

V.Z.: Indem Sie Bezug auf die Printmedien nehmen, resümieren viele Artikel beim Perlentaucher Rezensionen aus den großen deutschen Zeitungen. Ist das noch journalistische Arbeit oder doch eher »Informations-Harvesting«?

Literaturverteiler

Das Interview mit Thierry Chervel wurde im Rahmen der Veranstaltungsreihe Literaturverteiler. Orte, Medien, Akteure im literarischen Leben geführt, die Litlog gemeinsam mit dem Literarischen Zentrum organisiert. Chervel war bei der ersten Veranstaltung der Reihe mit dem Titel »No. 1: Das Netz« als Diskutant zu Gast. Die nächste Veranstaltung findet statt am 4. Juli um 20h und beschäftigt sich mit alten und neuen Begebenheiten der Lesebühne.

 
 
T.C.: Die beiden schließen sich ja nicht aus! Journalisten bündeln letztendlich ja auch Informationen, die sie in anderen Medien und Quellen finden. Journalistische Texte bilden in der Verwertungskette nicht den Ursprung, sondern sind selbst schon immer sekundär. Das sollte man nicht übersehen, gerade wenn sich Journalisten beschweren, dass sie im Netz quasi »abgeerntet« werden – und selbst eigentlich nichts anderes machen. Im Prinzip heißt das: Journalismus ist ein Teil der Öffentlichkeit, der Informationen bündelt und darüber setzt sich jetzt – unter anderem mit Perlentaucher – noch eine weitere Internetsphäre, die ebenfalls Informationen zusammenträgt.

V.Z.: Wenn sich diese beiden Sphären eigentlich so ähnlich sind, wie erklären Sie sich dann die Kritik der etablierten Print-Medien?

T.C.: Das gehört im Prinzip alles zum weiten Feld des Medienwandels: Das Internet verändert ja alles mögliche; dazu gehört eben auch die Öffentlichkeit. Bisher repräsentierte der Journalismus die Öffentlichkeit ganz allein, jetzt ist er durch das Internet umgeben von lauter neuen Medien und Diensten. Diese sind ganz anders, als Journalismus bisher war und damit natürlich auch nicht leicht einzuschätzen. Dadurch sieht sich der Journalismus in Frage gestellt – sehr verständlich. Denken wir z.B. an so etwas wie Facebook oder Twitter, dann sind das selbstverständlich auch Dienste, über die man sich informieren kann, aber es ist kein Journalismus. So etwas sorgt natürlich auch für eine große narzisstische Verletzung bei den Journalisten: Bisher waren sie die einzigen, die darüber bestimmten, worüber und wie die Öffentlichkeit informiert war. Das Ganze wird jetzt gewissermaßen privatisiert: Jeder, der einen Blog schreibt, ist Teil der Öffentlichkeit und kann somit auch ein wesentlicher Teil einer Auseinandersetzung werden.

V.Z.: Die Kritik der Printmedien richtet sich ja vor allem gegen den Perlentaucher: Sie gelten für viele deutsche Zeitungen als »Bad Guy«. Die Zeit hat 2010 in einem Artikel z.B. alle Dinge aufgezählt, die sie sich für das nächste Jahr wegwünschen würde: Auf Platz eins landete Krieg, Platz zwei belegte der Hunger und auf Platz drei folgte der Perlentaucher

T.C.: Na, das ist doch eine Ehre! (lacht). Tja, wir mussten in den letzten 10 Jahren leider lernen, dass die Reaktionen der Journalisten auf den Perlentaucher sehr zwiespältig sind. Das liegt zum einen daran, dass das Netz nun einmal Hierarchien relativiert und somit viele Institutionen verstört hat, unter anderem eben auch den Journalismus, der durch das Internet seine Torwächterfunktion verliert. Zum andern haben wir stark in die Islamdebatte eingegriffen und dort eine andere Position als die Zeit vertreten…

V.Z.: In dem Zeit-Artikel beschwert sich Hilal Sezgin außerdem über die »verperlentaucherte« Version der Print-Buchkritiken. Tatsächlich schreiben Sie ja Rezensionen über Rezensionen. Als solcher »Kritiker der Kritiker« hat man doch eigentlich immer das letzte Wort. Ist das nicht ein bisschen unfair?

T.C.: Das stimmt nicht: So etwas wie das letzte Wort gibt es im Internet nicht mehr. Wenn überhaupt, dann haben wir im Netz das vorletzte Wort, denn das Internet hat schließlich immer eine Kommunikationsfunktion und ist so etwas wie ein unaufhörliches Gespräch. Bis jetzt hatten die Journalisten immer das letzte Wort: Wenn ein Kritiker z.B. eine Rezension zu einem Buch geschrieben hat, konnte das Publikum oder der Autor selbst diese kaum kommentieren. Das Netz bietet hingegen einen unendlichen Dialog. Alle unsere Artikel haben beispielsweise eine Kommentarfunktion und ich beobachte immer wieder die steigende Kommunikationsfreude unserer Leser.

V.Z.: Gibt es denn redaktionelle Anweisungen, wie man einen typischen »Perlentaucher-Artikel« schreiben sollte?

T.C.: Bei den Rezensionsnotizen gibt es schon klare Kriterien: Es sollte in eigenen Worten formuliert werden, der Autor des Artikels muss genannt werden, man sollte – optional – vielleicht eine kleine Einschätzung zu der Kritik geben und natürlich nicht zuviel zitieren. Aber abgesehen davon, herrscht eigentlich ziemliche Freiheit – man darf zwar nicht alles, aber man darf alles probieren – und wenn man Glück hat, kommt der Artikel dann rein – oder eben nicht! (lacht)

V.Z.: Apropos Freiheit und Grenzen im Online-Journalismus: An der Universität Bochum haben Sie ein Seminar zu den Chancen und Risiken von Kuturjournalismus im Netz gegeben. Was sind denn die spezifischen Bedingungen des Netz-Journalismus?

T.C.: Journalismus ist erst einmal Journalismus. Rein profesionell ist Journalismus, egal ob nun im Print oder im Netz, den gleichen Kriterien und der gleichen Berufsethik verpflichtet. Ich glaube nicht, dass man etwas Spezielles für den Journalismus im Netz lernen muss, was man nicht auch in anderen journalistischen Sphären beherrschen sollte. Jeder Journalist sollte meiner Meinung nach wissen, wie er sich im Netz bewegt. Ich habe gerade in meinen Seminaren gemerkt, wie viele der Studenten doch noch große Lücken in ihren Onlinekompetzen hatten, viele haben z.B. kein Twitter benutzt oder noch nie etwas von der Google Toolbar gehört. Als Journalist muss man aber in solchen Dingen qualifiziert sein.
Gerade der junge Journalist, der sich zu Beginn seiner Karriere einen Namen machen möchte, muss im Netz präsent sein. Die Zeit des Medienwandels ist beinahe so etwas wie der Klimawandel, in dem die scheinbar soliden Schollen, auf denen die Medien standen, plötzlich wegschmelzen. Es gibt immer weniger offene Stellen und dadurch immer weniger Chancen, in die Medien hereinzukommen. Da eröffnet das Netz viele Chancen: Man kann dort eigentlich sofort loslegen und braucht den Filter der etbalierten Medien gar nicht unbedingt. Man kann z.B. einfach einen Blog aufmachen, sich auf ein bestimmtes Thema konzentrieren und sich so eine Existenz im Netz schaffen. Damit kann man sich einen Namen machen und kommt letztlich auch in die professionellen Kreisläufe herein, wo sich das Ganze dann auch finanziell rentiert.

V.Z.: Stichpunkt »finanziell rentieren«: Anfang des Jahres hat Perlentaucher seine Leser dazu aufgerufen, die Seite finanziell zu unterstützen, weil der Perlentaucher durch den Preisverfall der Bannerwerbung in finanzielle Not geraten war: Wie schaut die finanzielle Lage jetzt aus?

T.C.: Die hat sich zum Glück gebessert, denn mittlerweile hat sich die Werbesituation wieder entspannt. Außerdem waren unsere Leser gerne dazu bereit, uns zu helfen. Wir sehen das als eine Art »informelles Honorar«. Kostenpflichtig soll der Perlentaucher aber nie werden, denn wir verweisen ja hauptsächlich auf Dinge, die es im Netz schon gibt. Darüber hinaus sind wir Anhänger eines offenen Netzes: Wir möchten eine möglichst freie, offene und faire Sphäre der Auseinandersetzung mit kulturellen Themen bieten.

V.Z.: Sehen Sie sich denn eher als Geschäftsmann oder eher als Feuilletonist?

T.C.: Sagen wir mal so: Als Geschäftsmann wäre ich nicht sehr begabt. Immerhin ist der Perlentaucher angesichts der schwierigen Medienökonomie ja nun kein superrauschendes Geschäft. Um ehrlich zu sein: Mit Inhalten lässt sich im Netz kein großes Geld verdienen. Das wussten wir aber bei der Gründung der Seite noch nicht, denn da war das Internet noch weitgehend unbekanntes Terrain. Die Zeitungen machen ihren Gewinn ja auch nicht primär durch den Vekauf von Inhalten, sondern finanzieren sich vor allem durch den regionalen Anzeigenmarkt, den sie bieten.

V.Z.: Herr Chervel, vielen Dank für das Gespräch!



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 Veröffentlicht am 27. Juni 2011
 Mit freundlicher Genehmigung vom Literarischen Zentrum Göttingen.
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