Darf man Leben gegen Leben aufwiegen, den Wert eines Lebens zahlenmäßig erfassen? Staranwalt und Bestsellerautor Ferdinand von Schirach legt mit seinem ersten Bühnenstück Terror den Finger in die Wunde einer entscheidungsunwilligen Gesellschaft. Im Deutschen Theater wird das Publikum zur Urteilsfindung gezwungen.
Von Rashid Ben Dhiab
»Die utilitaristische Lehre besagt, dass das Glück wünschenswert ist, und zwar als das einzige, was als Zweck wünschenswert ist«, schrieb John Stuart Mill 1861 in Utilitarismus. Er wurde dadurch Mitbegründer einer teleologischen Ethik, die vor allem nach dem Prinzip der Nützlichkeit ausgerichtet ist. Ethisch gut ist alles, was das Glück befördert. Doch was ist dieses »Glück« und für wen soll es gelten – für alle oder nur für eine bestimmte Personengruppe? Nehmen wir an, es existierte ein Mensch, der mehr Glück empfinden kann als die gesamte restliche Weltbevölkerung – müssten wir nicht alles nach den Bedürfnissen des einen ausrichten? Wie kann Glück bemessen werden?
Dieser vertrackten Ausgangssituation steht das minimalistische Konzept des Bühnenbildes diametral entgegen. Eine farblose Treppe vereinnahmt die Bühne für sich, darüber strahlt kaltes Neonlicht. Das Personal ist ähnlich kühl eingefärbt, es dominieren weiße und graue Töne. Schnell wird klar, dass man nicht zum Vergnügen hier ist. Man befindet sich vielmehr an einem Ort der Rechtsprechung, an dem für optische Ablenkungen kein Platz sein darf. Es herrscht die Ratio, die Ernsthaftigkeit und Konzentration gebietende Vernunft. Im Zentrum steht der Prozess und die Auswertung von Fakten, denn der Zuschauer ist in diesem Stück nicht nur ein einfacher Rezipient, der die Handlung beobachtet, er wird vielmehr zum Richter, der nach der Verhandlung über den Angeklagten zu urteilen hat. Und der Fall erweist sich schnell als moralisches Dilemma, dessen Lösung wahrlich nicht einfach ist.
Bereits während der Vernehmung des ersten Zeugen, Kochs Vorgesetztem Christian Lauterbach (Gerd Zinck), stellt sich heraus, dass der Angeklagte einen direkten Befehl missachtet hat. Seine Entscheidung, die Maschine abzuschießen, traf er nach eigenem Ermessen. Im anschließenden Verhör des Angeklagten durch Staatsanwalt Nelson (Florian Eppinger) bohren sich dessen Fragen unter Kochs Maske der militärischen Disziplin. Mit den Folgen seiner Tat konfrontiert, brechen Wut und Verzweiflung aus dem Mann heraus, der seit Monaten in Untersuchungshaft sitzt und von seiner Familie getrennt ist.
Die erregte Stimme des angeklagten Piloten dröhnt durch den Saal, wenn er auf seine militärische Ausbildung verweist. Er habe gelernt, in Extremsituationen eigenständig Entscheidungen zu fällen. In diesem Fall habe er deswegen die möglichen Opferzahlen gegeneinander abgewogen und seine Wahl getroffen. Staatsanwalt Nelson ist ebenso wenig von den Ausführungen des Angeklagten überzeugt wie Zeuge Franz Meiser (Nikolaus Kühn), dessen Frau in der Todesmaschine durch Kochs Entscheidung umgekommen ist. Grauenerregend detailliert schildert er seine Sicht der Tragödie: von der SMS seiner Frau, in der sie ihm von der Entführung erzählt, bis zum Abschuss der Maschine. Verstörend wirkt die Beschreibung der Ungewissheit über den Verbleib seiner Frau in den letzten Stunden ihres Lebens. Ein Schuh bleibt ihm als einziges Erinnerungsstück, das aus dem Wrack geborgen wurde. Auf das Mitgefühl der Kläger kann der Pilot kaum hoffen. Doch das Problem, vor dem das urteilende Publikum steht, ist kein emotionales, sondern ein ethisches, was die Plädoyers der Anwälte deutlich machen.
Die Wahl des »kleineren Übels«Staatsanwalt Nelson und Verteidiger Biegler (Paul Wenning) vertreten zwei unterschiedliche philosophische Positionen. Letzterer erläutert seine Sicht auf das Problem mit dem »Weichensteller-Fall«: Ein außer Kontrolle geratener Güterzug rast auf einen Bahnhof zu, in dem ein voll besetzter Passagierzug steht. Der Unfall könnte verhindert werden, indem eine Weiche umgestellt und der Güterzug so auf ein Nebengleis gelenkt wird. Dadurch würden allerdings einige Arbeiter, die gerade Schienen reparieren, ihr Leben verlieren. Laut Biegler würde instinktiv fast jeder den Zug umlenken und das »kleinere Übel« wählen. Er argumentiert utilitaristisch nach dem Nutzen für das größtmögliche Glück und das kleinstmögliche Unglück.
Auf der Gegenseite steht Nelson mit Kants kategorischem Imperativ, der in seiner Grundform lautet: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.« Lars Koch unterlag geltenden Gesetzen, als er handelte. Als Soldat der Bundesrepublik Deutschland hätte die Pflichterfüllung und damit die Befolgung seiner Befehle an erster Stelle stehen müssen, ungeachtet der daraus erwachsenden Konsequenzen. Zudem sei der Abschuss eines entführten Flugzeugs vom Bundesverfassungsgericht 2006 für verfassungswidrig erklärt worden. Man dürfe nicht Leben gegen Leben aufwiegen, da jedes Leben einen unendlichen Wert habe und nicht bemessen werden könne. Lars Koch hätte nach Meinung des Richters also seinen Befehlen gehorchen und abdrehen müssen. Er habe den Passagieren mit seiner Entscheidung die Würde genommen, die ihnen dem Grundgesetz nach zusteht. Die Würde, eventuell noch das Cockpit zu stürmen und das Unglück selbst abzuwenden. Der Staatsanwalt vergleicht die Situation mit der Tötung eines sterbenden Krankenhauspatienten, um dessen Organe für die Rettung mehrerer anderer zu verwenden.
Carte blancheNach Schließung der Beweisführung und den Plädoyers der Anwälte obliegt es dem Publikum, durch Aufzeigen einer schwarzen oder weißen Karte über Schuld oder Unschuld von Lars Koch zu entscheiden. Nun treten Mitarbeiterinnen des Theaters durch die Seitentüren und zählen die hochgehaltenen Karten. Die Vorsitzende (Andrea Strube) verkündet das Urteil: Der Angeklagte ist unschuldig, das Publikum hat ihn mehrheitlich freigesprochen. Zwar hat er den Tod von 164 Menschen zu verantworten, doch hat er im Rahmen eines übergesetzlichen Notstandes gehandelt, der sein Verhalten rechtfertigt. Wie genau ein solcher Notstand definiert wird, ist jedoch nicht eindeutig geklärt, weswegen Koch gegen keine geltenden Gesetze verstoßen habe. Der Ausgang mag nicht restlos befriedigen und dürfte auch keine uneingeschränkte Zustimmung erfahren. Doch fehlt im Gerichtssaal ebenso wie in der Philosophie eben die Absolutheit.
Es ist hauptsächlich das interaktive Spiel am Ende des Stückes, das die Aufmerksamkeit der ZuschauerInnen durch das auferzwungene Abwägen der Argumente erhöht. Denn obwohl oder vielleicht auch weil das Ensemble lückenlos überzeugend spielt, bildet von Schirachs Terror stellenweise die Trockenheit einer echten Gerichtsverhandlung ab. Vor allem das völlig sterile Bühnenbild und die bisweilen etwas steif geratene Figurenzeichnung wirken etwas glatt. Doch auch wenn die Inszenierung atmosphärischer hätte ausfallen dürfen, liegt der eigentliche Reiz des Stückes in der Lösung des dargestellten Dilemmas und dem daraus folgenden Urteil. Terror ist, wie der Name vermuten lässt, kein unterhaltsames Abendvergnügen, sondern drängt dem Publikum die unbequemsten Fragen auf und fordert, Unentscheidbares zu entscheiden. Ein philosophisches Gerichtsstück, das durch seine Realitätsnähe und dem klugen Publikumsbezug besonders intensiv nachhallt.