Die Bestseller-Autorin Delphine de Vigan besucht Göttingen, um ihren neuesten Roman Loyalitäten vorzustellen. Auf Einladung des Literarischen Zentrums und der Deutsch-Französischen Gesellschaft Göttingen eröffnet sie einen Raum zum Nachdenken und Mitfühlen. Ein Lesungsbericht.
Von Nicole Morasch
Am 19. November sitzt Delphine de Vigan elegant auf dem Podium des Literarischen Zentrums. In sanftem Französisch und mit geschickten Handbewegungen diskutiert sie mit F.A.Z.-Journalistin und der Moderatorin des Abends Lena Bopp über ihr neuestes Buch und ihr literarisches Schaffen. Bopp übersetzt nicht nur das Gespräch ins Deutsche, sondern fasst auch die Stellen zusammen, die de Vigan auf Französisch liest und die so ungehindert ein besonderes Gefühl für die französische Sprache vermitteln. Aus der deutschen Übersetzung liest DT-Schauspieler Christoph Türkay. An einigen Stellen bringt sich das Publikum mit Fragen und Bemerkungen ein.
Das sind die unsichtbaren Verbindungen, die uns mit den anderen – den Toten wie den Lebenden – verbinden, leise gemachte Versprechungen, deren Auswirkungen wir nicht kennen, still gehaltene Treue, das sind Verträge, die wir zuallermeist mit uns selbst geschlossen haben, Befehle, die wir hingenommen, aber nie gehört haben, in den Nischen unserer Erinnerungen nistende Schulden.
So beginnt der aktuelle Roman von Delphine de Vigan, die bekannt dafür ist, in ihrer Literatur psychosoziale Problemsituationen zu thematisieren, mit denen sie in ihrem eigenen Leben konfrontiert war. In ihrem literarischen Schaffensprozess verarbeitet sie wiederkehrend das Motiv der haltlosen Jugend: Mit dem Roman No & Ich (Droemer 2008), der das Leben eines obdachlosen Mädchens aus der Sicht einer 13-jährigen Hochbegabten schildert, schaffte sie ihren literarischen Durchbruch im deutschsprachigen Raum. In ihrem Roman Das Lächeln meiner Mutter (Droemer 2013) beschäftigt sie sich mit dem Freitod ihrer Mutter und in Nach einer wahren Geschichten (DuMont 2016) mit Begegnungen mit obsessiven Personen.
Loyalitäten jedoch lässt keine expliziten Bezüge zur Biografie der Autorin erkennen. Thematisch dreht sich der Roman um komplexe Loyalitätsfragen, die miteinander im Konflikt stehen. Anstatt wie in ihren vorherigen Romanen die Perspektive Delphines, also einer de Vigan gleichnamigen fiktionalen Figur, einzunehmen, folgt die Leser*innenschaft hier mehreren Erzählsträngen. In knappen Kapiteln wird zwischen den Hauptfiguren gewechselt und im Verlauf des Abends erkundet das Publikum das clever durchdachte Werk. Anhand der Lebenssituationen ihrer Figuren führt de Vigan durch zahlreiche moralische Zwickmühlen. Die Erzählstimme von Hélène beispielsweise zeigt eine Lehrerin, die von eigenen Missbrauchserfahrungen aus ihrer Kindheit geprägt ist. Eine sorgenvolle Ahnung beschleicht sie: Erleidet ihr Schüler Théo Ähnliches? So bricht sie mit Verhaltensnormen der Schulinstitution, um ihrer Intuition auf den Grund zu gehen. Einen »beinahe pathologischen Charakter« schreibt die Moderatorin Bopp Hélènes Loyalitätskonflikt zu.
Die Anwesenden gewinnen neben Diskussionsmöglichkeiten auch Einsichten über die schriftstellerische Arbeit der Autorin. Trotz der autobiografischen Elemente in de Vigans Romanen und des medialen Interesses am Wahrheitsgehalt, verortet sie ihren künstlerischen Prozess ausdrücklich in der Schaffung von Fiktion. Ihre wiederkehrenden Motive spielen zwar tragende Rollen in ihrer Biografie, doch ihre Romane basieren auf ausführlichen Recherchearbeiten und neuen Formen des Erzählens. Darin liegt für sie auch die Faszination: De Vigan beschreibt, wie sie durch ihren Schreibprozess für gegenwärtige gesellschaftliche Fragen und deren Komplexität sensibilisiert werde. Sie probiert sich aus, erschafft Neues.
Literatur als GesellschaftskritikDass beim Vortrag von Textpassagen auf einen stetigen Wechsel zwischen dem französischen Original und der deutschen Übersetzung geachtet wird, erlaubt es auch denjenigen, die des Französischen nicht mächtig sind, in die Lebenswelt der Figuren einzutauchen. Es ergibt sich dabei das Gefühl, nicht einem ausschließlich französischen Phänomen von Loyalitätskonflikten, sondern einer vertrauten Problematik zu begegnen. Daraus resultieren Fragen, die nicht leicht zu beantworten sind: Welches Ausmaß können alltägliche Loyalitätsbeziehungen annehmen? Ab wann ist ein Loyalitätsbruch gerechtfertigt oder sogar gefordert? Und in welchen Mustern ist das eigene Selbst verstrickt?
Trotz der ernsten Themen schafft es de Vigan an manchen Stellen Lockerheit zu versprühen: Auf Nachfrage eines Anwesenden, weshalb die männlichen Figuren in ihrem Roman keine eigene Stimme bekämen, lacht sie und gesteht ein, dass die Männer in ihrem Roman nicht gut wegkämen. Aber die Männer im Publikum sollen sich nicht Sorgen: Zum Ausgleich habe sie eine Kurzgeschichte mit einer wundervollen Vaterfigur geschrieben.
Zum Abschluss des Abends sieht man sich dann selbst mit einem eigenen, zum Glück leichten Loyalitätskonflikt konfrontiert: Zwischen der Bewunderung für gute Literatur – dem Verweilen-Wollen – und der Notwendigkeit, der kalten Novembernacht zu trotzen.