Die Science-Fiction-Literatur der 1980er Jahre ist weltfremd und naiv-humanistisch – meinten die Cyberpunk-Begründer und riefen das so benannte dystopische Subgenre der Science Fiction ins Leben. Die Medienwissenschaftlerin Jiré Emine Gözen hat die Cyberpunk-Bewegung in ihrer Dissertationsschrift Cyberpunk Science Fiction. Literarische Fiktionen und Medientheorie untersucht.
Von Rashid Ben Dhiab
Vollkommen vernetzte Welten, in denen die Technologie nicht nur die Gesellschaft, sondern auch den menschlichen Körper durchdringt. Konzerne, die sich über Regierungen erheben. Amoralität und Verbrechen. Hightech und lowlife – das ist Cyberpunk.
Zumindest das, was heutzutage unter diesem Begriff, der eine Untergattung der Science Fiction bezeichnet, verstanden wird. Woher er kommt und was sich tatsächlich dahinter versteckt, beleuchtet die Medienwissenschaftlerin Jiré Emine Gözen in ihrer Dissertation Cyberpunk Science Fiction. Literarische Fiktionen und Medientheorie, die 2012 im transcript-Verlag erschienen ist. Auf 350 Seiten wird nicht nur ein historischer Abriss der Science Fiction und der aktuelle Stand der Forschung geliefert, sondern eine präzise Abgrenzung zwischen klassischer Science Fiction und Cyberpunk durchgeführt. Im Zentrum der Arbeit steht Gözens These, die Cyberpunk-Literatur habe medientheoretische Konzepte aufgegriffen, diese fiktionialisiert und gedanklich fortgeführt. Um die Entstehungsgeschichte und -gründe dieses Subgenres verständlicher zu machen, legt Gözen besonders großen Wert darauf, seine Begründer im Detail vorgestellt zu wissen.
Rebels with a causeIm Oktober 1982 trafen bei einer Science Fiction Convention in Austin die Autoren Bruce Sterling, John Shirley und William Gibson zusammen. Sie hatten kein geringeres Ziel als eine Revolution gegen die, in ihren Augen, stagnierende und selbstreplizierende Science Fiction anzuzetteln. Als sogenannte »Mirrorshades-group« stürmten sie in den Folgejahren Lesungen bekannter Schriftsteller wie Robert A. Heinlein oder Harlan Ellison, um diese öffentlich zu kritisieren – stets uniform in schwarze Lederjacken gekleidet und mit verspiegelten Sonnenbrillen.
Dabei richteten sie sich vor allem gegen die vorherrschende Weltfremdheit, naiv-humanistisches Denken und eskapistische Fantasien in der Science-Fiction-Literatur. Ihre Forderung: ein radikaler Bruch mit diesen Konzepten. Später wurde sowohl die Gruppierung als auch die von ihnen geschaffene Stilgattung mit dem Begriff »Cyberpunk« nach einer gleichnamigen Kurzgeschichte des Autors Bruce Bethke bezeichnet.
Das Wirken der Mirrorshades-group zieht sich als roter Faden durch Gözens gesamte Dissertation, die dadurch zuweilen den Eindruck einer Biographie der Autorenbewegung erweckt und das eigentliche Thema in den Hintergrund zu rücken scheint. Doch wie im weiteren Verlauf deutlich wird erweisen sich die Motive der Bewegung als unabdingbar für das Verständnis der Arbeit. Sie bilden das Fundament, auf dem Gözen ihre Argumentation aufbaut, und dem sie sich, mit gutem Grund, sehr ausführlich widmet.
Gözen schildert die Systematik, mit der sich die Cyberpunk-Autoren von den Motiven der klassischen Science Fiction lösten. Vor allem Bruce Sterlings Roman Schismatrix und Gibsons Neuromancer werden als Beispiele herangezogen. Beide Werke zählen zu den populärsten ihres Genres. Besonders Gibson genießt Gözens Aufmerksamkeit, da Neuromancer einige der hervorstechendsten Merkmale von Cyberpunk-Literatur beinhalte – als da wären: gebrochene, amoralische Protagonisten und die Glorifizierung der Verschmelzung von Mensch und Maschine.
Die Technologie ist zur Erweiterung des Menschen geworden, hat die Gesellschaft durchdrungen und neu geformt. Gözen führt den Roman Blutmusik von Greg Bear, einem späteren Mirrorshades-Mitglied, als Beispiel dafür an. Darin vereinen sich alle Lebensformen der Erde durch eine neue Technologie körperlich und geistig und erlangen somit Transzendenz – ein Erlösungsmotiv, das, in abgewandelten Formen, in der Cyberpunk-Literatur immer wieder auftaucht.
Schlüssig und nachvollziehbar argumentiert Gözen, wenn sie ihre These, der Cyberpunk führe medientheoretische Konzepte fort, auf Bears Werk anwendet. Ausführlich beschreibt sie, wie Blutmusik mit der beschriebenen Verschmelzung das Konzept der Noosphäre des Jesuitenpaters Pierre Teilhard de Chardin aufgreift, es aus seinem religiösen Kontext herausbricht und auf rein wissenschaftlicher Ebene weiterführt. Auf die gleiche Art stellt Gözen Verbindungen zwischen der Cyberpunk-Literatur und den Medientheorien Jean Beaudrillards und Marshall McLuhans her, die die gesellschaftlichen Wandlungen durch neue Technologien thematisieren.
Evolution statt RevolutionDabei vollzieht Gözen einen erfreulichen Spagat zwischen wissenschaftlicher Präzision und Lesevergnügen, denn Cyberpunk Science Fiction liest sich trotz der anspruchsvollen Thematik flüssig und unterhaltsam. Doch auch wenn Gözens Arbeit in Beweisführung und argumentativer Strukturierung gelungen ist, muss sie sich den Vorwurf gefallen lassen, dem Phänomen Cyberpunk erstaunlich unkritisch gegenüberzutreten. Während zu Beginn betont wird, dass sich das Subgenre nicht nur auf inhaltliche Merkmale reduzieren lassen kann, wird gerade beim eingefügten Kompendium der siebzehn wichtigsten Werke deutlich, dass genau dies der Fall ist. Allerdings erkennt Gözen im abschließenden Fazit an, dass die angestrebte Revolution nur bedingt geglückt ist und der Begriff des Cyberpunk heute durch eine Schleife der Selbstreplikation verwässert worden ist.
Gözens Dissertation liefert aber nichtsdestotrotz einen informativen Einstieg in die Materie des Cyberpunk. Darüber hinaus ist sie auch eine der wenigen akademischen Arbeiten in diesem Bereich aus Deutschland und in deutscher Sprache, womit Gözen einen mehr als brauchbaren Orientierungspunkt zur Verfügung stellt. Möchte man allerdings weiterführende Forschungen auf diesem Gebiet betreiben, kommt man nicht um den angloamerikanischen Raum herum, wo diese schwerpunktmäßig betrieben werden.