Wie wir gemeinsam alt werden und wie man sich mit diesem Roman eine Staublunge zulegt – Jan Heemann äußert sich als erste Stimme in der Reihe 2 Stimmen, 1 Roman über Camille de Perettis Roman Wie wir gemeinsam alt werden und befindet: Das Buch liest sich wie ein verregneter Sonntag und eine Nacht ohne Schlaf.
Von Jan Heemann
Dieses Buch liest sich wie ein verregneter Sonntag und eine Nacht ohne Schlaf.
Die Hommage, die Camille de Peretti mit ihrem dritten Roman geschrieben hat, ist unübersehbar. Das einleitende Zitat des großen George Pérec und der Anhang mit der mathematisch korrekten Erklärung, wie die verschiedenen Zimmer des Altersheims, um das es im Roman geht, logistisch angeordnet sind, sprechen eine klare Sprache, die der Anlehnung an ein Vorbild. Man fragt sich aber am Ende des Romans, der de Perettis Debüt in Deutschland ist, was das alles eigentlich soll.
Wenn man an Das Leben. Eine Gebrauchsanweisung zurückdenkt, fallen einem sofort eine kompositorische Vielfalt und eine metatextuelle Konstruktion ein, bei der die Konzeption der 99 Kapitel in den Zimmern eines Pariser Mehrfamilienhauses, in die man voyeuristische Einblicke bekommt, hervorragend kongruiert mit dem Dreh- und Angelpunkt der Geschichten, einem Künstler, der aus seinen Werken Puzzle gemacht hat. 99 Puzzle in einem Puzzle sind eine Meisterleistung. De Perettis Einsichten in das Altersheim Les Begonias (auf Deutsch: Die Begonien, wobei in einer französischen Metapher bégonias auch Stränge, im Sinne von Grenzen, bedeuten kann) in der Pariser Innenstadt sind schon fast parodistisch langweilig. Als wollte de Peretti kein Buch der Anerkennung für George Pérec schreiben, sondern eine Version, die zeigt, wie ermüdend auch interessante Konzepte sein können.
Vom Nichts zu erzählenDe Perettis Geschichten haben einen wenig bedeutenden Mittelpunkt, nämlich den tragischen Fall der alten, klugen »Nini« Ninotschka, die, manisch depressiv, ihre einzige Bezugsperson Camille beschimpft. »Nini« lässt sich gern im Rollstuhl durch das Heim fahren und wird von jeder der Romanfiguren kurz bemerkt. Zum Beispiel lernen wir zwei alte Damen kennen, die keine interessanten Geschichten zu haben scheinen, eine Frau, die als Kind Opfer mehrerer Vergewaltigungen wurde, oder einen dementen Mann, den alle nur den »Kapitän« nennen, weil er sich für eben solch einen hält.
Ein Roman ohne Spannungsbogen, inhaltliche Höhepunkte oder Wendungen ist kein Roman, sondern ein Protokoll. Camille de Peretti umschifft die wirklich interessanten Fragen, wie Sterbehilfe oder gewalttätige Pflegekräfte, die man in einem solchen Kontext stellen könnte, zugunsten von einem Mittagessen oder einer berechenbaren Liebelei zwischen Pflegerin und Direktor. Wer sich ein Altersheim als Ort des Geschehens aussucht, sollte mit der Langeweile, die man damit assoziiert, brechen und nicht das Klischee bedienen. Was gibt es da zu lesen, wenn es nichts zu erzählen gibt? Der Voyeurismus von Pérec funktioniert in einem Pariser Mehrfamilienhaus besser als in einem Heim für alternde Menschen.
VoyeurismusDa hilft auch der Blick auf die Komposition nicht, wenn etwa die Zimmer nach dem mathematischen Problem des Rösselsprungs und dem Euler’schen Quadrat angeordnet sind. Das Regelwerk ist im Anhang des Romans beigelegt und erklärt nach welchen mathematischen Regeln Wir werden zusammen alt konzipiert ist. Diese Regeln mussten beim Schreiben von vornherein eingehalten werden und überraschen diejenigen, die den literarischen Logarithmus nicht schon während des Lesen aufgelöst haben am Ende vielleicht ein wenig, aber machen die Erzählung leider nicht besser. Man kann Camille de Peretti dafür Respekt zollen, dass sie eine mathematische Arbeit bewältigt hat. Aber selbst ein aufwendig konstruiertes Gebäude wird langweilig, wenn man in ihm nur ein verstaubtes Altersheim vorfindet.
Und trotzdem…Auf den letzten Metern des Romans geraten die alten Menschen (und mit ihnen die Leser) in ihre Traumwelten, die, wenig überraschend, weit dynamischer sind als ihr waches Dasein. Camille de Peretti gleicht ihren Schreibstil diesem Umstand an. Mit einem Mal findet sie faszinierende Bilder, beispielsweise wenn die Farbe Weiß, die sich durch eines der letzten Kapitel zieht, mit der Metaphorik der Unschuld bricht. So wird eine atmosphärisch dichte Vergewaltigung zum tragischen Höhepunkt zumindest auf der erzählerischen Ebene.
Die makellosen Fliesen umhüllen sie mit scharfem Licht. Alles ist weiß, wie auch Jocelynes Rock, wie der Himmel hinterm Fenster, wie das Weiß in den Augen ihres Onkels, der sie entsetzt anstarrt.
Die imaginäre Kamerafahrt durch den Flur des Altersheims, die die Erzählstränge zusammenführt, wirbelt zum Schluss den Staub auf. Wir haben also deutliche Hinweise, dass Camille de Peretti eine begabte Schriftstellerin ist. Nun warten wir auf ein gutes Buch von ihr.
Kerstin Cornils Stimme zu Camille de Perettis Roman findet ihr hier.