Am 20. und 21. Januar ist Carolin Emcke zu Gast in der Göttinger Aula am Wilhelmsplatz. Litlog dokumentiert hier die Einführung in ihre »Lichtenberg-Poetikvorlesungen«.
Redemanuskript von Peer Trilcke, es gilt das gesprochene Wort
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Gäste – und vor allem: liebe Carolin Emcke, herzlich willkommen im Namen der Universität, herzlich willkommen im Namen des Seminars für Deutsche Philologie.
Gelegentlich zitierte der Namensgeber dieser Poetikvorlesung, Georg Christoph Lichtenberg, einen Vers aus der Ars Poetica des römischen Dichters Horaz: »difficile est proprie communia dicere«, lautet der Vers im lateinischen Original, »schwierig ist es, Allgemeines individuell zu sagen«, wird er mitunter übersetzt.
Die ›schwierige Aufgabe, das Allgemeine individuell zu sagen‹ – das könnte nun auch grundsätzlich als eine der Herausforderungen dessen gelten, was wir gewöhnlich als Poesie bezeichnen. Denn ist nicht gerade das die Kunst der Poetinnen und Poeten: der allgemeinen Sprache, mit all ihren Formeln, Phrasen und Klischees, ein individuelles Sprechen entgegenzusetzen? Ein Sprechen, das nicht in Allgemeinbegriffen aufgeht, sondern sich dem Einzelfall widmet; ein sensibles Sprechen, das die Nuancen und die feinen Unterschiede zur Sprache zu bringen vermag – das sich also der schwierigen Aufgabe stellt, sich dem Individuellen anzunehmen?
Nun wird man, meine Damen und Herren, sicherlich bestreiten können, dass unsere heutige Poetikdozentin, Carolin Emcke, eine Poetin ist. Eine – vielfach ausgezeichnete – Journalistin, eine weit gereiste Reporterin, eine promovierte Philosophin, eine facettenreiche Publizistin, eine streitbare Diskutantin: all das, und noch so manches mehr, ist Carolin Emcke in einer ganz eigenen, charakteristischen, gewissermaßen individualisierten Mischung. Doch eine Poetin ist sie wohl eher nicht.
Aber sollte man sich da so sicher sein?
Tatsächlich beschreibt Horazens Formel von der ›Individualisierung des Allgemeinen‹ ja bemerkenswert treffend, was Carolin Emcke immer wieder gelingt: Etwa wenn sie, die sich selbst einmal als »Schülerin der Frankfurter Schule« bezeichnete, über allgemeine Fragen des Politischen reflektiert, über Begriffe wie Demokratie, wie Gerechtigkeit oder Rassismus zum Beispiel. Nicht um die Begriffe in ihrer Abstrakt- und Allgemeinheit geht es dann nämlich; Emckes Blick richtet sich vielmehr auf die Welt in ihrer Konkretheit und Komplexität, in ihrer Besonderheit, auch ihrer Ambivalenz und Widerständigkeit. Die großen, allgemeinen Begriffe werden auf diese Weise plastisch, oder eben: individidualisiert – sie werden greifbar in konkreten individuellen Handlungen, vollzogen durch und vollzogen an Individuen. Demokratie oder Rassismus sind dann nicht nur und vor allem nicht in erster Linie Begriffe der politischen Philosophie – sie sind Wirklichkeit, die sich in und durch unsere Handlungen konstituiert.
Das »Allgemeine zu individualisieren« – dieser Anspruch zeigt sich in Emckes Schreiben allerdings nicht nur in der engagierten Verstrickung von Begriff und Welt, von Denken und Erfahren. Er zeigt sich auch in einer grundsätzlichen Verteidigung des Individuums gegenüber der Rhetorik des Kollektiven und deren Mechanismen der Verkürzung, des Vorurteils und der Ausgrenzung. Den Reden von ethnischen, religiösen, nationalen oder sexuellen Kollektiven tritt mit Emckes nuancierender Prosa ein »Plädoyer für den Singular« entgegen – ein Plädoyer »für das abweichende Individuelle, das einzigartige, zarte Subjektive«, wie sie selbst es einmal in ihrer Kolumne für die Süddeutsche Zeitung genannt hat.
Begleitet wird diese Achtung für das Individuum in Emckes Werken von einem Ethos der Zeugenschaft. Denn jene Opfer von Entrechtung und Gewalt, denen die Reporterin Emcke auf ihren Reisen in die weite Welt oder direkt um die Ecke begegnet – jene Opfer sind in einem eminenten Sinne Zeugen. Zeugen allerdings, deren eigene Individualität und Identität durch die erlittene Gewalt beschädigt, verstört, mitunter gänzlich negiert wurde – bis zur Ent-Individualisierung, bis zur Sprachlosigkeit. Den Opfer die Sprache, ihre Stimme zurückzugeben, ist damit gleichbedeutend mit der Aufgabe, ihnen ein neues Vertrauen in die Welt und die eigenen Individualität zu ermöglichen.
Das jedoch, daran lässt Emcke keinen Zweifel, geht nur, wenn diese Individualität durch andere anerkannt wird. Dafür aber bedarf es des Dialogs, des Gesprächs: »[E]ist das Gespräch mit anderen«, so schreibt Carolin Emcke in ihrem beeindruckendem Essay Weil es sagbar ist, »es ist das Gespräch mit anderen, worin die Kontinuität der eigenen Identität sich beweisen muss, worin sie bestätigt und hinterfragt wird. Erst im Dialog mit anderen wird das Erlebte eigentlich begriffen und zur Erfahrung ausformuliert, durch die Anerkennung oder Abweisung des Gegenübers zeichnen sich die Eigenheiten und Andersartigkeiten, Ähnlichkeit und Verschiedenheit, die Individualität also, erst ab und aus.«
Mit ihren Schriften und Reflexionen erinnert Carolin Emcke uns an eine ebenso einfache wie allzu häufig vergessene Wahrheit: Zeugenschaft bedarf eines Gegenübers, an das sie sich richten kann. Sie bedarf einer Zeugin, die für den Zeugen zeugt, die ihn wahrnimmt, anerkennt. Und die es sich zur Aufgabe macht, die Geschichte weiterzuerzählen, in all ihrer Brüchigkeit, ihrer stockenden, zögernden, zerbrechlichen Form. Die heute allgegenwärtige Katastrophenberichterstattung der Medien mit ihrer Logik des prägnanten O-Tons muss diesen hehren Anspruch an journalistische Zeugenschaft im Grunde notwendig verfehlen. Die TV-Kamera ist in den meisten Fällen eben kein Gesprächspartner, kein Gegenüber, das einen vertrauensvollen Raum schafft, in dem sich die eigene Individualität zurückgewinnen und erfahren lässt.
Für Emckes Idee journalistischer Zeugenschaft bedeutet dies auch, dass sie mit einer starken Vorstellung des journalistischen Individuums einhergeht. Denn wenn das Gespräch als Ort der Zeugenschaft nur stattfinden kann, wenn sich Individuen begegnen, dann muss auch der Journalist, muss auch die Reporterin als Individuum in Erscheinung treten. Sie muss sich einbringen. Subjektivität ist damit kein Hindernis für die Tätigkeit der Reporterin, sondern im Gegenteil deren conditio sine qua non. Er verstecke »sich nie hinter seinem Objektiv«, schreibt Emcke einmal über Sebastian Bolesch, einen der Fotografen, der sie auf ihren Reisen begleitet hat – »er entzieht sich nicht den Situationen oder menschlichen Begegnungen, sondern die Kamera ist bei ihm immer Teil einer Szene«, heißt es weiter.
Eben das lässt sich auch über Carolin Emcke sagen; sie versteckt sich nicht hinter einer vermeintlichen Objektivität, sie entzieht sich nicht, im Gegenteil: sie bringt sich als Subjekt ins Spiel. So etwa in ihrer Denkschrift Stumme Gewalt, die sich mit dem Terror der RAF befasst und dabei ihren Anfang nimmt von der eigenen Verlusterfahrung beim Mord des engen Vertrauten Alfred Herrhausen. Oder in dem so facettenreichen Band Wie wir begehren, der nicht nur von Praktiken der strukturellen Ausgrenzung und Normierung von Sexualität in der Bundesrepublik erzählt, sondern auch von Emckes eigenem Weg zu einem homosexuellen Begehren. In der musikalisch mehrstimmigen Komposition von Zeitgeschichte, philosophisch-politischer Reflexion und autobiographischer Erfahrung entwickelt sich hier jeweils im Schreiben ein Ich: ein Ich, das durchaus auch zweifelt, das den Umweg nicht scheut auf der Suche nach möglichen Sprachen für Gewalt, aber auch für Begehren, für Lust, für Sehnsucht und Hoffnung. Ein Ich, das sich gerade in seinen Zweifeln, seinen Umwegen, seiner Mehrdeutigkeit und Offenheit als Individuum behauptet.
»difficile est proprie communia dicere« – »es ist schwierig, Allgemeines individuell zu sagen«, so hatte ich vorhin übersetzt. Interessant ist allerdings, wie Georg Christoph Lichtenberg sich den Horaz-Vers zuweilen angeeignet hat. In einem Brief an den Berliner Aufklärer Friedrich Nicolai gibt er dem Vers nämlich eine etwas andere, charakteristische Wendung: »Freilich«, so Lichtenberg, »Freilich schreiben müßte man gelernt haben und die Kunst verstehen […], sich selbst auszusprechen so individuel als möglich«.
Carolin Emckes Schriften sind nicht nur Zeugnisse einer Autorin, die diese Kunst auf zugleich intellektuell und emotional bewegende Weise versteht. Sie zeigen auch, dass es nicht nur der Kunst bedarf, sich selbst auszusprechen, sondern dass diese Selbstaussprache immer auch Mut erfordert – den Mut, sich als politisches Subjekt dem Diskurs zu stellen, sich in den Streitraum der Öffentlichkeit zu begeben, Position zu beziehen – und darauf zu hoffen, dass es zum Gespräch kommt. Die »Subjektivität zu verteidigen«, schreibt Emcke in Stumme Gewalt, könnte »auch eine politische Perspektive sein […], weil hierin eine abweichende, eine ambivalente Stimme erst begriffen und damit behauptet werden könnte gegen die Verkrustungen der jeweiligen Ideologien«.
In Zeiten, in denen man – wie Emcke vor ein paar Tagen twitterte – »vor lauter Gebrüll kaum seine eigenen Gedanken« hören kann, gibt eine solche politische Perspektive Hoffnung. Ob es dabei dann um Poesie geht oder nicht, ist mir persönlich jedenfalls herzlich einerlei. Keinen Zweifel hingegen habe ich daran, dass Carolin Emckes Stimme hier und heute, anlässlich der Lichtenberg-Poetikvorlesungen, genau die richtige ist.
Ich gratuliere den Veranstalterinnen und Veranstaltern zu dieser Wahl. Und Ihnen, liebe Frau Emcke, gratuliere und danke ich dafür, dass Sie in diesem Jahr die Lichtenberg-Poetikvorlesungen halten werden. – Ich freue mich. Vielen Dank!