Tauben fliegen auf, wenn man sich schnell durch die Straßen bewegt, auf dem Weg zum Ziel. Doch wie findet man den Weg zu einem Ziel, das man nicht kennt? Wie beantwortet man eine Frage, die sich unablässig stellt, auf die es keine Antwort zu geben scheint? Dieses Suchen ist das zentrale Element in Melinda Nadj Abonjis Roman Tauben fliegen auf. Das Suchen der Einwandererfamilie Kocsis, die versucht, sich in das Leben der Schweiz zu integrieren.
Von Rüdiger Brandis
Ildi, Ildikó Kocsis, heißt die Erzählerin dieser Geschichte. Wir erleben durch ihre Gedanken die Probleme, mit denen ihre Familie in der Schweiz zu kämpfen hat. Sie erzählt von ihren Reisen in die ungarische Heimat, in der alles so anders ist und doch so vertraut. Sie erzählt von Kriegen auf dem Balkan, die sie von ihren in der Heimat lebenden Verwandten trennt. In Rückblicken lernt der Leser diese kennen und erlebt die Sehnsucht, die Ildi immer wieder verspürt, wenn sie an ihr ungarisches Zuhause denkt.
Damals und jetztNiemand weiss, was mir diese Bäume bedeuten, die Luft zwischen den Bäumen, die man genau sehen kann und ich wünsche mir auch diesmal stehenzubleiben und ich bitte meinen Vater auch diesmal nicht anzuhalten, weil ich auf die Frage »warum« keine Antwort wüsste.
Warum sollen wir anhalten? Warum? Dieses »warum« wirkt wie ein Programm von Abonji, das sie ihre Protagonistin Ildi immer wieder fragen lässt. Es ist die Frage nach dem »warum«, die diesen Roman zu motivieren scheint. Warum sind wir ausgewandert? Warum müssen wir uns anpassen? Warum dürfen wir nicht sagen, was wir denken? Wir nehmen Teil an Ildis Suche nach ihrer Identität, der Suche nach ihrem Ich, einer Suche, die ihr Ziel im Suchen selbst findet.
Und ich, die sagt, dass es nicht darum gehe, ich will unsere Verschiedenheit verstehen, und mir fällt das ungarische Wort für Verschiedenheit nicht ein, aber die plötzliche Klarheit darüber, warum man, wenn jemand gestorben ist, sagt, er sei verschieden, der schwere Stand der Verschiedenheit, denke ich.
Man erlebt, mit welchen Schwierigkeiten das Neue behaftet ist. Wie schwer dieses Neue zu verstehen ist. Wie verwirrend sich manchmal Vergangenheit und Gegenwart ineinander verschränken, keine Lösung in Sicht.
Verloren und doch gefundenDiese Verwirrung, das gelegentliche Nicht-Verstehen, spiegelt sich auch in Abonjis Erzählweise wider. Sie springt in der Zeit vor und zurück, so plötzlich, dass man nur mit Mühe folgen kann. Sie wechselt oftmals so rasch, dass man sich nicht mehr im Klaren ist, ob einem gerade vom Jahr 1980 oder vom Jahr 1990 erzählt wird.
Tauben fliegen auf ist ein Roman, der uns nicht in neue sprachliche Wunderwelten entführt. Er leitet die Leser in eine Welt der Einwanderer und deren Probleme. Und Abonjis einfache Sprache passt sich diesem Thema an und bringt es auf ehrliche Weise zur Geltung.