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Von Zeichen und Bildern

Beim belletristischen Literaturherbst war das Programm auch in diesem Jahr vielfältig: Leif Randt schaut durch die literarische Brille auf die Millennial- Generation, Navid Kermani hingegen seziert in seinen Reden die Gesellschaft Deutschlands und macht vor keinem Missstand Halt.

Von Lennart Speck

Es hat etwas Eigenartiges, auf dem iPad einem Autor zu lauschen, wie er über ein Buch redet, in dem es um eine Beziehung geht, die vor allem dann funktioniert, wenn die beiden Protagonist:innen jeweils auf ihr Smartphone anstatt einander in die Augen schauen. Bei der Lesung von Leif Randts neuem Buch Allegro Pastell am 24. Oktober 2020 beim Göttinger Literaturherbst bringt Moderator Claudius Nießen dem Publikum mit seinen Fragen den Autor und sein Schreiben nahe. Für einen Augenblick scheint es, als würde man durch eine angelehnte Tür in die Poetologie Randts schauen. Das Schreiben ist für ihn etwas Persönliches. Er müsse eine Beziehung zu den Figuren und der von ihm entworfenen Welt aufbauen, nur so gelinge ihm ein Text, mit dem er sich selbst wohlfühle, verrät Randt. Das sei wichtig, denn sonst könne er nicht auf das Publikum überspringen.

Randt kommt es auf die Atmosphäre bestimmter Szenen an, die sich in Räumen und Orten äußert. Die Orte, die im Roman auftauchen, kennen die Lesenden, ob Berlin, Frankfurt am Main oder Hannover. Zur Atmosphäre trägt auch die Musik bei, die die Figuren hören oder die wichtig für die Welten ist – in Allegro Pastell ebenso wie in Planet Magnon, dem dritten Buch von Randt. Auf Nießens Frage nach seiner eigenen Musikrezeption antwortet Randt jedoch, dass er selbst beim Schreiben nie Musik höre. Im Zug auf dem Weg nach Göttingen habe er erst in den letzten 30 Minuten den Laptop aufgeklappt, vorher habe er sich Gedanken zu seinen neuen Figuren gemacht. »Auch das ist wichtig«, sagt er, »nicht direkt auf den Bildschirm zu schauen.« Interessant ist diese Aussage, weil es in seinem aktuellen Roman doch genau um das Leben und Lieben auf der Mattscheibe geht.

Die Liebe in Zeiten von Instagram

Buch-Info


Leif Randt
Allegro Pastell
Kiepenheuer & Witsch: Köln 2020
288 Seiten, 22,00€

 
 

Allegro Pastell erzählt eine Liebesgeschichte in den später 2010er-Jahren: Tanja Arnheim, Autorin des Bestsellers PanoptikumNeu, und Jerome Daimler, Webdesigner, führen eine Beziehung über 500 Kilometer. Es ist eine Fernbeziehung, wie sie im Buche steht, beide vermissen sich gegenseitig, doch wenn sie sich sehen, kracht es häufig. Wenn sie jedoch nur durch Zeichen kommunizieren, ist alles perfekt, ja, geradezu kontrolliert. In der gemeinsamen Geschichte von Tanja und Jerome gibt es nur einmal ein böses Wort und das auch nur in Gegenwart beieinander. Als sich die beiden über einen Film streiten, lässt sich Tanja zu einem »Halt die Fresse« hinreißen. Ansonsten aber gibt es im persönlichen Kontakt, von Angesicht zu Angesicht, keinen Schmerz, keine Trauer, keine Liebe oder gar tiefe Freude. Im Kommunikationssystem der Zeichen sieht das schon anders aus. Hier finden sich Tanja und Jerome wieder, hier können sie sich einander offenbaren. Sie haben sich eine emotionale Filterblase aufgebaut, die auf Textnachrichten aneinander basiert. In dieser verzweifeln sie jedoch zunehmend. Das ist die Stärke dieses Buchs, die auch den Titel so beschreibend werden lässt: Randt beschreibt eine Generation, die gefangen ist zwischen offener Kommunikation auf dem Bildschirm und emotionaler Beherrschung im Beisammensein. So trieft der Titel Allegro Pastell von derselben schillernden Uneindeutigkeit wie die Kommunikation während der Treffen. Das ist es vielleicht, was Ijoma Mangold meint, wenn er in der ZEIT schreibt, dass an diesem Buch kein Millennial vorbeikomme. Und tatsächlich fühlt man sich durch den Roman häufig ertappt, etwa wenn man selbst nach der Lesung sein Smartphone hervorholt, eine Nachricht tippt und mit Emojis versieht. Emotionalität ergießt sich vor allem in Telegram-Nachrichten und Emails, aber nicht in Gestik, Mimik und Stimme des Gegenübers.

Bruch zwischen Äußerem und Innerem

Wenn dieser Roman ein Querschnitt durch die Generation der Millennials sein soll, dann hat Randt gut daran getan, dem Protagonist:innen-Paar diese sterile Emotionalität zu verpassen und ihm auch andere Beziehungsmodelle gegenüberzustellen. Entscheidend ist dabei auch die Erzählperspektive, wie Randt beim Literaturherbst ausführt: Die Distanz, die durch die sozialen Netzwerke entsteht, werde am besten erreicht, wenn es eine Perspektive gebe, die nicht unmittelbar am Geschehen beteiligt ist. Für ihn, dessen vorherige Bücher in der Ich-Perspektive geschrieben waren, sei es neu, mit der dritten Person zu spielen.

Leif Randt selbst würde man auf den ersten Blick auch der Instagram-Generation zuordnen, denn er sieht aus, wie man sich eine seiner Figuren vorstellt: Er trägt eine Cap in Kombination mit einem Shirt in Camouflage-Muster und einem grauen Hemd darüber. Gleichzeitig funktioniert dieses Bild des Großstadt-Hipsters nicht ganz, sondern bricht immer wieder. Dieser Bruch mit der Kohärenz lässt sich übertragen auf die Generation, die Allegro Pastell beschreibt; eine Generation, die sich eben nicht einordnen lassen möchte.

Das, was Randt als Diskrepanz zwischen äußerer und innerer Persönlichkeit beschreibt, erinnert an Susan Sontags Gedanken zum Unterschied zwischen einem Foto und der darauf abgebildeten Person. Das Foto ist laut ihr immer ein anderes Bild von der natürlichen Person. Übertragen auf Randts Roman scheint dies aktueller denn je, als habe Sontag geahnt, dass es in Zukunft ein soziales Netzwerk geben würde, das auf Fotos basiert. Instagram reproduziert diese Kluft zwischen dem realen Individuum und dem sich der Welt präsentierenden. Eben dieser Identitätskonflikt um die Frage, wer ich bin und wie ich mich fühlen will, macht diesen Roman und den Literaturherbst-Abend so stark: Das Abbild des Autors passt zu den Figuren des Romans, aber auch die Figuren sind wiederum eine Reproduktion der gesellschaftlichen Wellenbewegungen der letzten Jahre. Es bleibt die Frage, ob es einen Unterschied gibt zwischen Objekt und Abbild oder ob die Grenzen zwischen diesen beiden so fließend sind, dass sie gar unfassbar sind. Letztlich wird so eine schon oft behandelte und doch nie zu beantwortende Frage aufgeworfen: Wer bin ich wirklich? Jetzt und hier?

Aktuelle literarische Formen

Leif Randt stellt sich die Fragen unserer Zeit in Form von Prosa, die aktuell ist – jetzt und wahrscheinlich noch so lange, wie digitale Medien unseren Alltag bestimmen. Nur wenige Tage später schaut beim Göttinger Literaturherbst ein anderer Autor ebenso genau auf unsere Welt, jedoch in einer anderen literarischen Form: Am 28. Oktober 2020 spricht Navid Kermani mit Moderator Andreas Gardt im Welfenschloss in Hann. Münden über sein 2019 erschienenes Buch Morgen ist da, das seine Reden aus den letzten Jahren versammelt. Kermani analysiert darin unsere Gesellschaft in ihrem reichen Spektrum und macht sich dafür das Genre der Rede zunutze.

 
Navid Kermani hält beim Literaturherbst eine Rede © Dietrich Kühne

Der Abend beginnt mit einer Rede über Rupert Neudeck, Journalist und Mitbegründer der Hilfsorganisation Cap Anamur, anlässlich seiner Beerdigung. Neudeck setzte sich sein Leben lang für Geflüchtete ein – dieses Engagement ist eng verwandt mit den Themen von Kermanis Rede: Migration, Demokratie, Gewalt, Frieden und Religion. Wenn man Kermanis Rede lauscht und sein weicher Kölner Dialekt leicht ins Ohr spült, wird erst nicht ganz klar, dass es um Neudeck geht. Denn dem Redner ist nicht der Name Neudecks wichtig, sondern sein Leben und Wirken, das ihm als Beispiel dient für ein Konzept von Menschlichkeit, das er in seiner Rede entwirft. Die Eingangsrede des Abends beginnt damit, dass Kermani beschreibt, was er tut, nachdem er ReportMainz und die Tagesthemen geschaut hat. Er geht sich seine Zähne putzen. Was erst zum Schmunzeln anregt, lässt eine:n nach einem Augenblick mit einem betretenen Gefühl zurück. Denn bei dieser Alltagstat begleitet auch ihn, Navid Kermani, eine der politisch und gesellschaftlich tragenden intellektuellen Stimmen Deutschlands, ein Gefühl der Ohnmacht und Dumpfheit. In den Sendungen hat der Redner Berichte über die Debatte um flüchtende Menschen gesehen und nimmt dieses Gefühl, mit dem er seinem weiteren Alltag nachgeht, als Ausgangspunkt für das, was »uns normale Menschen« von jemandem wie Rupert Neudeck unterscheidet: Das ist für Kermani die Tat, die in Aktion gesetzte Menschlichkeit, eben nicht  auszuharren und zu warten, bis wir abstumpfen.

Wie wollen wir miteinander leben?

Bei all seinen Reden bleibt Kermani auf einer Ebene mit den Zuhörenden, er markiert hier nicht klar ein hierarchisches Verhältnis zwischen Kanzel und Bank, nein, er ist respektvoll und beschreibt seine Gefühle, wenn er auf die Welt schaut. Er hält eben kein moralisches Diktat, sondern malt in jeder Rede verständnisvolle Bilder des Landes, Europas und der Welt. Von kleinen Alltagserfahrungen kommt er in Sphären der Menschlichkeit, des Anstands und der Teilhabe an einer Welt, wie er sich diese wünscht.

Buch-Info


Navid Kermani
Morgen ist da. Reden
C.H.Beck: München 2020
368 Seiten, 26,00 €

 
 

Gardt fragt, warum er diese Rede der Anthologie zu Beginn des Abends auswählte. Die aktuelle Lage habe ihn dazu gebracht, erzählt Kermani, denn er sehe, wie sich durch die Pandemie vor allem der Fokus auf das Individuelle, im gesellschaftlichen wie im politischen Denken, gelegt wurde. Genau wie die Zuschauenden der Tagesthemen entdecke er innerhalb der Politik in der Pandemie keine Gemeinschaft über die Grenzen des Eigenen hinweg. Alles fokussiere sich wieder auf die Nationalstaatlichkeit, selbst in der Rede von Bundeskanzlerin Merkel ging es doch vor allem um Deutschland. Genau deshalb habe er die Rede ausgewählt, weil es jetzt umso mehr darum gehe zu erkennen, was alles verloren geht durch den Virus. In Zeiten der Pandemie fehle insbesondere das Reisen, weil dabei Erfahrungen gemacht werden. Erfahrungen seien nicht nur für die persönliche Entwicklung von Bedeutung, sondern auch für die journalistische Arbeit, Berichterstattung gehe nicht nur vom PC aus. Man sehe mittlerweile nur Ereignisse, aber keine Menschen mehr: »Dadurch verlieren wir die Welt.«

Das ist Kermani in Bestform, wenn er sich kleine Veränderungen anschaut und anhand dessen Auswirkungen auf gesellschaftlicher und politischer Ebene aufzeigt. Die Reden in Morgen ist da stellen die Frage danach, wie wir miteinander leben wollen. Alle miteinander: muslimische, jüdische, christliche und atheistische Menschen. Wie soll das funktionieren in einem Staat mit solch einer Geschichte und so viel rassistischem Potenzial? Kermani betrachtet in seinem Reden die Anatomie der deutschen Gesellschaft. Er zeigt uns einen Querschnitt durch ein Land, das nicht eindeutig ist, nicht gut oder böse, sondern beides. Das macht ihn und seine Reden stark, denn sie erlauben es, Ambiguität auszuhalten.

Gegenwärtige Reden

Die Rede ist für Kermani ein Medium, das mit der Zeit an Glanz eingebüßt hat und nur bis zu einem gewissen Punkt wandelbar ist. Für ihn ist klar, dass aktuelle Ereignisse stets in eine Rede miteinfließen müssten.  So habe er bei seiner Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2015 erst kurz vorher von der Entführung eines christlichen Paters in Syrien erfahren und seine ganze Rede dementsprechend gestalten müssen. Dies ist auch das Paradox, das Kermani beim Redenschreiben verspürt: dass er anlässlich eines Ereignisses schreiben soll, das aber erst in der Zukunft stattfinden wird. Reden müssten daher so geschrieben werden, dass sie den Spagat zwischen Aktualität und Zukunftsorientierung halten. Die Überzeugungskraft von Reden ist dann auch ein wichtiges Thema an diesem Abend. Das ist das Potenzial von Reden – das sich auch Kermani für sein humanistisches Anliegen zunutze macht.

Reihe


Vom 17. Oktober bis 1. November 2020 fand der 29. Göttinger Literaturherbst statt. Litlog veröffentlicht ab jetzt jeden Werktag einen Bericht zu den diversen Veranstaltungen des Programms.
Hier findet ihr die Berichte im Überblick. Bis zum 30. November könnt ihr die Lesungen außerdem in der Mediathek des Literaturherbsts ansehen.

 
 

Zum Ende der Veranstaltung erzählt Kermani eine Geschichte von seinem Buchhändler in seiner Heimatstadt Köln. Ein Mann, der aus der Türkei kam, etwas schroff, aber liebenswürdig, dieser konnte, so liest Kermani in den letzten Minuten dieses Abends, alle Bücher besorgen, die er haben wollte. Die Bücher bestellte Kermani per Email bei ihm und bekam bis zum Tod des Buchhändlers immer eine Antwort aus den drei Worten, die die Welt in sich tragen, gerade in Zeiten der Pandemie: Morgen ist da.

So eint das Thema der Kommunikation die beiden Veranstaltungen. Navid Kermani und Leif Randt behandeln dieses auf ganz unterschiedliche Weise: der eine in Form eines Romans über eine Beziehung im Feld der neuen und unmittelbaren Kommunikation, der andere, indem er die Aktualität der Rede aufzeigt und sich als Kommunikationsmittel zunutze macht. Wo Randt deskriptiv bleibt, wird Kermani meinungsstark. Und doch zeigen sie beide gesellschaftliche Bewegungen auf. Durch die unterschiedliche Wahl der Mittel wird offenbar, dass ein Bild erst dann gewinnbringend zusammengesetzt werden kann, wenn Menschen auf verschiedene Arten miteinander kommunizieren. Und das wirft uns als Zuhörende wieder auf uns selbst zurück.



Metaebene
 Autor*in:
 Veröffentlicht am 12. November 2020
 © Dietrich Kühne, mit freundl. Genehmigung des Literaturherbst / Via Pixabay, CC0
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 Ein Kommentar
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Ein Kommentar
Kommentare
 lucie
 16. November 2020, 11:54 Uhr

Ach, wie schön! Da muss ich Allegro Pastell auch lesen! Tolle Worte, Lennart. 🙂

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