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Wach bleiben

Schlaf. Ein menschliches Grundbedürfnis und für viele Leute – oft Langschläfer genannt – sogar eine Art Hobby. Wenn man aufwacht fühlt man sich wohl und ausgeruht. Doch es gibt auch Menschen, die nicht mehr schlafen können. Sie leiden unter Insomnie und wandeln oft nachts umher. In der modernen Gesellschaft, in der es wichtig ist, 24 Stunden erreichbar zu sein, ist das Phänomen Schlaflosigkeit keine Seltenheit mehr.

Von Janine Seeger

August Kreutzer geht es ebenso. Der Protagonist aus Albrecht Selges Roman Wach schläft nicht. Stattdessen macht der Junior Center Manager viele Überstunden in der Mall, wo er arbeitet und läuft nachts durch die Straßen der Stadt. Ruhe findet er eigentlich nur in den Pausen, die er bei der Crêpes-Verkäuferin Manja verbringt, um (teilweise erfundene) Geschichten mit ihr auszutauschen. Zu der Beziehung der beiden werden leider lediglich Andeutungen gemacht. Man erfährt z.B. dass sich August um ihre Kinder kümmert, indem er mit ihnen auf den Spielplatz geht. Doch ob ihn mit Manja mehr als nur Freundschaft verbindet, bleibt Spekulation.

Ist das Internet an allem Schuld?

Augusts Wunsch nach Ruhe nimmt im Verlauf des Romans mehr und mehr zu, was damit zusammenhängen könnte, dass er im Internet auf einen Gedanken stößt.

Wenn man den Kopf einmal ganz frei von allem machen könnte, für einen Moment nur, alle Schubladen der Erinnerung fest zugeschoben, nichts denken und nichts wahrnehmen, abgeschottet von allen Eindrücken: ein leeres Gefäß sein.

Als er aus Langeweile an der Arbeit seinen Namen googelt, ist er schockiert. Er trifft auf zahllose Pornoseiten und fragt sich, wer sich in seinem Namen im Internet bewegt. Auch sein Chef Xerxes, der vor allem durch seine ungewöhnliche Sprechweise auffällt (»Denken Sie das, Herr Kreutzer!«), wird darauf aufmerksam und rät ihm mittels Internetfahnder den Täter zu stellen. Dies ist die eigentliche Hauptgeschichte, sie wird im Buch jedoch eher als Nebengeschichte erzählt. August interessiert sich nur hin und wieder für seinen Doppelgänger, dennoch fühlt er sich scheinbar verfolgt, denn er kommt nicht umhin, seinen Namen erneut zu suchen und stellt dabei fest, dass sich die Einträge sehr schnell vermehren. Als er schließlich krankgeschrieben wird, weil er seit fünf Wochen nicht mehr geschlafen hat, konzentriert er sich intensiver auf die Suche nach dem virtuellen ›august kreutzer‹ und wird schließlich auch fündig. Überraschend ist für den Leser jedoch nicht, wer der Täter ist, sondern wie August damit umgeht oder besser wie er nicht damit umgeht. Nach einer aufregenden Nacht, die er (erstmals wieder schlafend!) im Freien verbringt, beschließt er nichts zu tun und sich auf den Heimweg zu begeben. Dass dieser für ihn noch schwieriger wird als erwartet, hat er nicht ahnen können. Es fängt schon damit an, dass er seine Schuhe vermisst und endet damit, dass ihm kurz vor der Haustür ein großes Unglück passiert.

Der Fokus liegt im Detail

Viel mehr als auf die Rolle des Internetganoven geht Selge auf das Umhergehen und die Sinneseindrücke des echten August Kreutzer ein. So z.B. wenn er seine Eltern besucht und feststellt, dass »all die Orte seiner Kindheit ihre Verzauberung verloren haben«. Von charakteristischer Einzigartigkeit ist dabei sein Anzug, den er überall auf seinen nächtlichen Stadttouren trägt. Dabei macht es keinen Unterschied, ob er sich gerade in noblen Vierteln oder an dunklen verkommenen Ecken aufhält.

Buch-Info


Albrecht Selge
Wach
Rowohlt Verlag: Berlin, 2011
256 Seiten, 19,95 €

 
 
Man hat es hier mit einem durchdachten Roman zu tun, dessen Liebe zum Kleinen jedem auffallen muss. Auch wenn die Schilderungen der Spaziergänge manchmal etwas zu detailliert beschrieben sind, sodass sich die Geschichte beim Lesen in die Länge zieht und dadurch etwas von ihrer Spannung verliert, ist es das Buch durchaus wert, gelesen zu werden. Es lebt vom Thema der Schlaflosigkeit und fordert zum Nachdenken über den Umgang mit dem eigenen Leben auf. Es spricht im Grunde jeden an, beispielsweise wenn Xerxes (wie eigentlich immer) über das Leben und Älter werden philosophiert:

Das Grauenerregende ist ja, dass die Menschen, wenn sie hier hinausgehen, älter sind, als sie beim Hereinkommen noch waren. Denken Sie das!

Bevor man zu diesem Roman greift, sollte man sich bewusst machen, dass dies kein Kriminalroman ist und die Fahndung nach dem Internet- ›Täter‹ eher unspektakulär bleibt. Möglicherweise soll die Geschichte der modernen Gesellschaft, die alles hinnimmt ohne sich Gedanken über die eigenen Bedürfnisse und die eigene Gesundheit zu machen, einen Spiegel vorhalten. Wer also ein Buch zum Sinnieren und manchmal auch etwas Schmunzeln sucht, der ist mit Wach an der richtigen Adresse. Das unkommentierte Fazit am Ende des Romans – »ach, es ist alles schön« – lässt den Leser alsdann auch mit offenen Fragen zurück. So ist die Schlaflosigkeit nicht nur titelgebend, sondern auch leseranleitend: Wach bleiben und Nachdenken.



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 Autor*in:
 Veröffentlicht am 22. August 2013
 Kategorie: Belletristik
 Bild von CosmoPolitician via Flickr
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 Ein Kommentar
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Ein Kommentar
Kommentare
 c.seeger
 18. Oktober 2013, 20:13 Uhr

hat mich sehr neugierig auf das buch gemacht, werde es vielleicht mal lesen oder mir zu weihnachten wünschen

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