Im Staatstheater Kassel feiert Noah Haidles neues Stück Lucky Happiness Golden Express Weltpremiere. Mitten im bundesdeutschen Wahlkampfendspurt, was unseren Autor überraschend auf Peer Steinbrück treffen lässt. Zufall – oder hängt beides doch irgendwie zusammen?
Von Christian Röther
Eine zufällige Begegnung am Kasseler Hauptbahnhof. 2.000 Sozialdemokraten blockieren den Weg zum Staatstheater, warten geduldig auf ihren verspäteten Kanzlerkandidaten. Wir haben noch Zeit bis zur Weltpremiere von Noah Haidles neustem Stück Lucky Happiness Golden Express, rüsten uns mit Bratwurst im Brötchen und reihen uns ein. Es lohnt sich, der Mittelfinger der inhaltsentleerten Nation entpuppt sich als gefälliger Entertainer und sympathischer als im Fernsehen. Was wird Steinbrück am Wahlkampf am meisten vermissen? »Die Brötchen und die Bratwurst.«
Fast so familiär wie bei den Genossinnen und Genossen geht es überraschenderweise auch im Staatstheater zu. Da bittet der Intendant die plaudernde Bürgerlichkeit persönlich, allmählich die Plätze einzunehmen. Bei der Familie auf der Bühne läuft es hingegen schon lange nicht mehr gut. Mutter Vivian hat Mann und Töchter vor Jahren verlassen, Vater Andrew hatte gerade einen Schlaganfall. Sterbeszene im Krankenhaus also. Da weiß der Sozialdemokrat, sofern er gerade in der Opposition ist: hoffnungslos unterfinanziert! Doch es gibt Lösungen, oder zumindest Ideen. Was für Steinbrück die Steuererhöhungen sind, ist für Tochter Thump die Risikolebensversicherung ihres sterbenden Vaters. Kitas, Urlaub, Straßen, Zahnspange: Geld nimmt Sorgen. Und Alte und Kranke sind unnütz und verursachen bloß Kosten. Da will Thump bei Andrews Ableben etwas nachhelfen. Haidle stellt auch die Frage nach Ethik und Moral, die Gier der Tochter wird nur notdürftig mit Gebeten überdeckt.
Mutter Vivian weiß indes nichts mehr davon, was sie ihrer Familie angetan hat. Sie ist dement und beobachtet gerne die Birken vor dem Fenster. Geistig wandelt Vivian vor allem in der Vergangenheit und nimmt das Publikum mit in ihre Hochzeitsnacht mit Andrew. Die verläuft zunächst in etwa so, wie man sich die anstehenden Koalitionsverhandlungen zwischen Merkel und Trittin vorstellen muss. Wie war’s, Jürgen? »Als hätte mir ein Lama ins Gesicht gespuckt.«
Steinbrück hingegen malt das Schreckgespenst der Vermählung von CDU und AfD an die Wand. Wahlkampf und Demenz haben einiges gemeinsam. Vivian: »Wo sind wir hier?« Genosse: »Hallo Herr Steinbrück, wie halten Sie es mit der Linkspartei?« Alles muss man mehrfach erzählen, wiederkäuen wie ein Lama. Am Koalitionsbruch zerbricht jedenfalls auch Seniorpartner Andrew. Ein Selbstmordversuch, ein Leben im titelgebenden Chinaimbiss, weil er die leeren Zimmer zu Hause nicht erträgt.
Ich schicke einem Freund, seines Zeichens SPD-Mitglied, ein Foto von unserer zufälligen Begegnung mit dem Problem-Peer. Er kontert mit einem Foto von Merkel, bei deren Veranstaltung in Hannover er gerade ist, was ich nicht wusste. Sie sei leider gar nicht mal so schlecht. Wie Merkels Wahlkampftaktik ist auch die Botschaft des Stücks einfach und lange schon bekannt, läuft inhaltlich jedoch der Programmatik der Kanzlerin diametral entgegen: Das Streben nach Glück endet häufig in der großen Enttäuschung, in der Scheiße, in der Deutschland ja angeblich nicht steckt. Beide, Merkel und Steinbrück, wollen sich auf ihre Weise als der Lucky Happiness Golden Express inszenieren.
Haidle präsentiert mit Lucky Happiness Golden Express eine naheliegende und dennoch anregende Analyse unserer Zeit. Kassel, ›die Stadt mit dem gewissen nichts‹ (oder war das Hannover?), bietet den passenden Rahmen für die Weltpremiere, noch dazu in der Banalität des Doppelwahlkampfs. Den Volvo in der Garage, die Bratwurst im Brötchen: Das ist das Glück der Sozial- wie der Christdemokraten, erst recht in der gefühlten Dauerkrise. Dem Theater reicht diese Antwort nicht.