Erwähnung von Leichen, Zersetzung
Eva Maria Leuenbergers Debüt dekarnation zeigt, wie die Natur den Menschen abträgt. Hochmodern und rücksichtslos direkt werden hier die Grenzen zwischen Individuum und Umwelt, Leben und Tod, Kultur und Existenz beschrieben.
Von Mara Becker
Was kann Lyrik eigentlich? Diese Frage wird immer wieder gestellt – zuletzt vielleicht 2019 von Fokus Lyrik – Festivalkonkgress zur Gegenwartslyrik in Frankfurt. Erstmals gewann mit Jan Wagner 2017 ein Lyriker den Preis der Leipziger Buchmesse. Die Grenzen zwischen Lyrik und Hip Hop, Neuer
Wie viele andere Studierende der Literaturwissenschaften verspüre ich eine gewisse Art Scheu, wenn es an die Lyrik geht – bei mir als Anglistin wird diese noch verstärkt, wenn es sich um deutschsprachige Lyrik handelt. Trotzdem kann ich mich ihrem Sog nicht richtig entziehen, bin fasziniert von Rhythmus, Einsicht und Bildern, die Lyrik heraufbeschwören kann, lasse mich gern mitreißen von Experimenten, Stimmungen und Empfindungen. Die 1991 in Bern geborene Eva Maria Leuenberger steht in diesen Hinsichten Gegenwartslyriker*innen wie Rike Scheffler und Maren Kames in nichts nach. Sowohl 2014 als auch 2017 war sie Finalistin beim Open Mike – vor zwei Jahren präsentierte sie dort einen Auszug aus dekarnation, ihrem ersten Lyrikband, der 2019 bei droschl erschienen ist.
Der Versuch eines AnfangsDer Einfachheit halber (und mit der ist es bei diesem Lyrikband schnell vorbei) beginne ich mit dem Titel: dekarnation. Was bedeutet das überhaupt? Inkarnation, das ist die Fleischwerdung, die »Menschwerdung eines göttlichen Wesens«, heißt es im Duden. Haben wir es bei Eva Maria Leuenbergers Debüt also mit einer »Entfleischung« zu tun?
Es wäre ein Versäumnis, das ausgesprochen schöne Buchdesign nicht zu erwähnen. Vor samtig-dunklem Hintergrund rankt sich da etwas über das Cover, das nicht leicht zu definieren ist: Ist es das Skelett einer Schlange? Eine Erinnerung an Federn ist sicherlich auch denkbar, genauso wie der Hauch einer menschlichen Wirbelsäule oder die Assoziation mit Fischgräten – schon hier wird eine Interpretationspluralität eröffnet, welche durch die Lektüre nur verstärkt wird. Schlägt man dekarnation auf, so wird man über die vier Stationen informiert, die da warten: tal, moor, schlucht, tal. Ein Kreisauf also?
tal beginnt mit dem Erwachen des lyrischen Ichs. Es befindet sich in der Natur, umgeben von Moos, Bäumen, Berg und Bach – und grüner Wiese. Schnell wird klar: »in diesem tal / lebt niemand mehr und niemand / kennt den weg«. Einsamkeit ist das Gefühl, das diese ersten Zeilen dominiert. Die Beobachtungen des Lyrischen Ichs ziehen es in die Ferne und bleiben doch bei sich: »der mund spricht ein wort / und ordnet es in die hügel ein«. Außer einem Reh und einem Vogel werden hier keine weiteren Tiere und Menschen zu finden sein. Überhaupt, der davonfliegende Vogel: Dem Gedichtband ist unter anderem ein Zitat von Emily Dickinson vorangestellt, welche Hoffnung als ein »gefiedertes Ding« beschreibt (ein Zitat, das Max Porter leicht verändert zum Titel seines 2015 erschienenen Debüts gemacht hat). Fliegt die Hoffnung folglich davon? Die Natur bildet in dekarnation den Fixpunkt, die Instanz also, anhand derer sich das lyrische Ich zu definieren versucht:
die birken reißen auf an der haut
das schwarze fleisch ist trocken
wie immer, und wie immer
erwarte ich blut
du bist nur rinde, denke ich
und berühre meinen arm
»du bist nur rinde, denke ich / und berühre meinen arm«: eine Menge Abgrenzung ist da vorhanden, ebenso wie Sehnsucht – nach etwas, das dem Selbst ähnlich ist, nach Wiedererkennen und Dazugehören vielleicht, bestimmt nach einem Ende der eigenen Einsamkeit. Es werden Enden und Anfänge beschrieben, die ineinandergreifen und nie vollwertig auftreten: »ich bin allein: die welt / in den körper gestürzt«.
Grenzen absteckenDas Wasser ist schon in tal wichtiger Bestandteil der Naturbeobachtungen: das Flüssige, Strömende, Fließende. In moor, dem zweiten Teil, wird diese Gewichtung nur greifbarer. Das lyrische Ich steht am Rande eines Tümpels und blickt herab ins brackige Wasser. Hier werden weitere Lebewesen vermerkt: der mann tollund und die frau elling, zwei Wasserleichen, die Schlamm atmen und unberührbar sind. Dass hier niemand mehr ist, mit dem Kontakt aufzunehmen wäre, das ist eigentlich schon klar, heißt es doch in den letzten Versen von tal:
kein körper fällt
kein boden bleibt
nur die toten
reden noch
In diesem Abschnitt finden sich Hinweise auf andere Menschen, auf Kultur und Bräuche und Sagen – letztere sollen auch im nächsten Abschnitt schlucht von Bedeutung sein: »man sagt, die körper im moor / seien heilig, oder geächtet / geschenke an gott oder / verbrechen gegen ihn«. Dass das Lyrische Ich diese Dinge gelernt hat, verstärkt umso mehr die Einsamkeit, die es umgibt. Wie kommt es, dass niemand sonst zu existieren scheint?
Temporeiche AbgründeIn schlucht verändert sich das Erzähltempo. Unbedingt hervorzuheben ist hier die wahnsinnig gut funktionierende Parallelität von Form und Inhalt: Anders gesetzt und durchzogen von ausschließlich englischsprachigen Zitaten, immer wieder pausiert durch Einschübe von – static – ist hier plötzlich eine Dringlichkeit auch auf der formellen Ebene spürbar, die zuvor durch allumfassende Ruhe, durch Einsamkeit transportiert wurde. Die Fremdzitate stammen zum Großteil aus Anne Carsons Übersetzungen von Sophokles’ Antigone und Euripides’ Herakles. Auch die griechischen Tragödien beschäftigten sich mit den Beziehungen zwischen Individuum und Welt, Menschen und Göttern. Ist Leuenbergers Debüt also als Fortsetzung der alten Tradition zu lesen? Ist es auch dem Lyrischen Ich nicht möglich, die sich deutlich abzeichnende Katastrophe abzuwenden? Oder ist die Katastrophe gar bereits eingetreten und wir beobachten ihre Konsequenzen?
Der mann tollund und die frau elling lösen sich jedenfalls in diesem Abschnitt von ihren irdischen Hüllen, Schicht um Schicht – im wahrsten Sinne des Wortes. Die Strömung des Wassers, in dem sie treiben, lockert ihnen das Fleisch von den Knochen:
du erinnerst dich an einen traum:
da ist dein körper
_____rot leuchtend in der nacht
jeder finger _______von oben her
gerissen _________sich schälend nach
unten ______dein blut ist dunkel und
tropft
Auch wenn das Beschriebene brutal und eklig anmutet, so bleibt Leuenberger ihrem kraftvollen, mystischen Duktus treu, schafft dabei das Undenkbare: Es ist irgendwie versöhnlich, wie die beiden Wasserleichen sich zersetzen. Es ist ein sanfter Prozess – auch, wenn etwas reißt oder abfällt –, der das Lesen lohnt. Zugleich ist das Tempo von schlucht so einnehmend, dass es kaum möglich ist, das Buch wegzulegen.
Ein Luftholen stellt sich trotzdem ein, wenn man sich wieder im tal einfindet, das zurückführt zum Anfang: was zunächst ganze Gedichte sind, das fasert aus in Halbsätze, hier und da auf die Seite gesetzt. Als schliefe man ein, tauche ab in die Traumwelt der Entfleischung, führt dekarnation die Lesenden – ganz nach unten an den Boden des moors, in die Dunkelheit:
Was kann Lyrik also?und die luft:
_________die luft sickert selbst, am ende
und das licht:
_________das licht fällt in die nacht
Sich ein Debüt unter dieser Fragestellung anzuschauen, stellt vielleicht hohe Ansprüche. Eva Maria Leuenberger hat aber Antworten, und davon nicht wenige. dekarnation ist moderne Naturlyrik aus dem Jahr 2019. Ob sie Zukunftsmusik komponiert, Vergangenheit bewältigt, Utopie beschreibt oder eine Warnung formuliert, bleibt dabei offen. Festzuhalten ist, dass es in der beschriebenen Landschaft weder viele Tiere noch viele Menschen gibt, dafür viel Wasser, viel Grün, viele Bäume. Das lyrische Ich vergleicht Rinde mit Haut, steckt Eigenes vom Anderen ab, schaut in die Ferne und landet doch immer wieder bei sich selbst.
Umrandet ist all das von deutsch- und englischsprachigen Zitaten, sowohl dem gesamten Band vorgeschoben als auch an Kapitelanfängen – und natürlich in die Lyrik selbst integriert. Englische Einschübe sind nichts Neues, ebenso wenig, wie es neu ist, die Regeln der Groß- und Kleinschreibung über den Haufen zu werfen. Trotzdem ist dekarnation erstaunlich erfrischend. Es ist ein düsteres Buch, das konzentriert und ohne Umschweife erzählt, alle Sinne bedient und zurückführt zum Ursprung – was auch immer das bedeuten mag. Und sind es nicht genau diese Qualitäten, die Lyrik besonders machen?