»Regenbogenbunt« oder »Spaziergang mit Luzifer«? Die Dichterinnen_innen beim Göttinger Poetry Slam im Dezember 2012 oszillierten zwischen Himmel und Hölle, begegneten »Falkenfederfrauen« und kämpften gegen »Armeen der Furcht«. Für LitLog begab sich Astrid Schwaner in den Slam-Kosmos im ThOP.
Von Astrid Schwaner
Um halb acht, eine Dreiviertelstunde vor Beginn des Wortgefechtes, ergießt sich der Zuschauerstrom über die hölzernen Sitzreihen. Um acht beziehen plaudernde StudentInnen die Sitzkissen auf der Bühne. Um zwanzig nach Acht sind auch alle Treppenstufen besetzt. Die halbe Stunde Wartezeit draußen in der kalten Winternacht, eingeschlafene Waden vom Schneidersitz vor der Bühne und fünf Euro Eintritt nehmen die slambegeisterten Studierenden gerne in Kauf. Denn was jetzt kommt, das lohnt sich, weiß man in Göttingen.
Dichterwettstreit im StudententheaterEs ist wieder Poetry Slam im Theater im OP! Am 16. Dezember laden die Moderatoren Felix Römer und Christopher Krauß zum Dichterwettstreit ins Göttinger Studententheater. Die Bühne erobern neben dem featured poet (außer Konkurrenz) Sulaiman Masomi aus Paderborn vier geladene DichterInnen und fünf WortkünstlerInnen von der offenen Publikumsliste.
Im grauen Pulli, Jeans und Kinnbart betritt das Moderatorenduo die Bühne und eröffnet den Dichterwettstreit. Entspannt scherzen Christopher und Felix mit dem Publikum über Bärte und den Weltuntergang: Für den guten Zweck ließen sich Männer weltweit im »Movember« einen Bart wachsen, im Göttinger ThOP geht die Aufklärungsbewegung über Prostatakrebs sogar im Dezember weiter. Elegant im Umgang sogar mit brenzligen Zuschauerrufen zum Thema Aids und Krebs, sind die Moderatoren mit ihrer heiteren Situationskomik selbst Teil des Unterhaltungsprogramms, bevor sie die neun DichterInnen der zwei Slam-Runden ankündigen: sechs Frauen und drei Männern, eine erfreuliche Quote in der immer noch maskulin beherrschten Slamszene. Auf einer Schultafel notieren Christopher und Felix die Namen, erklären knapp die Regeln – sieben Minuten Redezeit ohne Hilfsmittel, der Applaus kürt den besten Auftritt jeder Runde, im Finale wird dann bestimmt, wer gewinnt – und los geht’s.
Gesellschaftskritik im PlanetensystemFeatured poet Suleiman eröffnet den Dichterreigen mit einem Text über seinen erfolglosen Versuch, »ein richtiger Deutscher« zu sein, der Autos baut und in der Disco nicht von schönen Frauen belästigt wird. Der Plot ist witzig, vollzieht überraschende Wendungen und bezieht politisch Stellung für mehr Toleranz. Sein zweites Gedicht über die Erde als Schulkind, das von der Krankheit »Menschheit« befallen und von den anderen Planeten gehänselt wird, mischt gekonnt Jugendslang, Metaphern und selbstironische Gesellschaftskritik.
Gegen diesen Auftakt kommt die erste Slam-Runde blass daher: Laura (offene Liste) trägt ihren Text »Kryptonit« über das Warten auf die Nachricht vom Angebeteten schauspielerisch gelungen vor, die Sprache fügt sie klug zu ungewöhnlichen Wendungen. Aber das wenig originelle Thema Flirtversuche und gender-Differenzen zieht sich doch in die Länge und hinterlässt im Ganzen keinen überzeugenden Eindruck.
Die geladene Slammerin Pauline Füg hingegen reißt mit ihrem typischen Slam-Sprachstil gleich mit und zieht die Aufmerksamkeit des Publikums mit wirkungsvollen Gesten in ihre Welt der Angst: »Armeen der Furcht« hinter sich, steht das lyrische Ich an der Weggabelung und weiß nicht weiter, seine Ratlosigkeit wiederholt sich in rhythmischen Refrains.
Peinliche PersiflageMit dem nächsten Beitrag von Bastian (offene Liste) erreicht der Abend einen ersten Tiefpunkt: Auf eine wenig interessante Einleitung über seinen letzten Polenurlaub folgt eine schräge bis peinliche Persiflage auf den Nahostkonflikt. Die Beschreibungen seiner Affären mit einer Jüdin und einer Palästinenserin enden verletzend und plump, sodass ihm später Moderator Felix in der Pause bestätigen wird, dass der Text »zu krass« war.
Matthias (geladener Gast) unternimmt in seinem Gedicht einen Höllenspaziergang in Begleitung Luzifers. Eine verquere Syntax und die gleichmäßig ratternden Reime erinnern an Stammtischwitze. Doch die meisterhafte Stimmenimitation von Akzenten, Dialekten und persönlichen Sprechweisen berühmter Figuren der europäischen Geschichte wiegt die altbackene Dichtweise auf und sorgt für Gelächter.
Anne (offene Liste) beschließt die erste Runde mit einem Wutgedicht auf das Hochschulsystem als Bildungsfabrik, in der am Fließband studiert wird. Leitmotivisch verknüpft sie Individualität und Kreativität mit Basteltechniken im Kontrast zur Hochschulmaschine, und bleibt dem Publikum doch konstruktive Ansätze schuldig. Sehr eindeutig gewinnt Matthias mit seiner Höllenfahrt die erste Runde im brandenden Applaus.
Nach der Pause bietet Suleiman einen komödiantischen Lesebühnentext über »Melissa« auf: Die Exfreundin des Mitbewohners zieht auf geheimnisvolle Weise alle Männer in ihren Bann, die sie in einer okkulten Sekte anbeten. Nach ihm startet die zweite Slamrunde mit Pauline von der offenen Liste. Ihr Gedicht über den »kleinen Mann in ihrem Kopf« bezieht sich konkret auf das Leben in Göttingen, auf Auffallen oder Anpassung. Am Ende steht Verwirrung: Soll man jetzt auffallen oder sich anpassen?
Regenbogenbunt in die zweite Slamrunde»Regenbogenbunt« dichtet Leonie (geladene Slammerin) weiter: Sie rappt energetisch gegen die oberflächliche Selbstproduktion via Facebook, Twitter und Popkultur. Phrasen und Redensarten bricht sie ideenreich auf und flicht sie zu neuen Wortkunstwerken zusammen, kreiert Binnenreime und Assonanzen. Kommt zurück ins Leben, lautet ihre Botschaft, wagt die politische Meinungsäußerung, seid »Vorbild statt Stilikone«! Dichterisch ist dieser Text der wohl abwechslungsreichste und schöpferischste des Abends.
Mona von der offenen Liste stellt anschließend zwei Texte vor: Ihr erstes Gedicht »versucht, das schlechteste Gedicht der Welt zu sein« (und ist es natürlich nicht, sonst wäre sie nicht hier). In ihrem zweiten Gedicht greift sie Kafkas Verwandlungsidee auf: Ihre Schwingen tragen sie als Falkenfederfrau den Sonnenstrahlen entgegen. Der gefühlvolle, sprachlich schöne Text gleitet phasenweise in den Kitsch ab.
Die soße GrindflutFür den kollektiven Lachanfall sorgt Lasses (geladener Gast) Gedicht über den Weltuntergang: In Schüttelprosa malt er die Apokalypse aus und das Publikum lacht Tränen über die »soße Grindflut« und »Saufland am Abhollen«: »Wer nicht arschen konnte, hatte die Schwimmkarte gezogen.« Als hübsches Detail rollt Lasse seinen Text beim Vortrag von einer langen Papierrolle ab. Der lustigste Text des Abends erntet tosenden Applaus und duelliert in einer Kampfabstimmung mit Leonies Gedicht um den Platz im Finale.
Leider zieht schließlich nur Lasse mit Matthias ins Finale ein, obwohl Leonie und Lasse wesentlich bessere Texte präsentiert hatten als die Teilnehmer der ersten Runde. So erreichen trotz der weiblichen Überzahl wieder nur Männer das Finale. Ein fataler Fehler.
Fäkales FinaleSeinen finalen Absturz erreicht der Abend mit den beiden letzten Texten, die dem Publikum thematisch die Wahl lassen zwischen Urin und Kot. Haben sich die Finalisten abgesprochen? Der Fäkalhumor von Matthias‘ Text über »die gelbe Flut« kleidet sich gänzlich niveaulos in Volksliedversmaße. Lasses neue Schüttelreime bleiben leider auch weit hinter dem kunstvollen Witz seines ersten Beitrags zurück und enden unter der Gürtellinie: »Langweilig wird Scheiße nie.« – leider doch. Dichterisch immer noch besser, gewinnt Lasse das Finale. Mit Blick auf den insgesamt unterhaltsamen und dichtkunstreichen Abend wurmt es, dass Leonies geniales Plädoyer für mehr Lebensnähe und politische Meinung leer ausgeht. Erfreulich ist immerhin, dass Monas Text über die »Falkenfederfrau« den Wettstreit der offenen Liste gewinnt und sie sich schüchtern und herzlich über den Buchpreis freut.