Am Deutschen Theater Göttingen werden in dem Stück Großer Wolf und kleiner Wolf Fragen des gesellschaftlichen Miteinanders thematisiert. Lisa van Buren inszeniert das humorvolle Kinderstück mit großem Ideenreichtum in der neuen Theaterbar, und macht es auch für Erwachsene interessant.
Von Hades Strickaere
Zum Sommer 2014 hat das Deutsche Theater in Göttingen seine Sparte Junges Schauspiel abgeschafft. Als offizielle Begründung gab der neue Intendant Erich Sidler an, man wolle die Kinder- und Jugendstücke in den Hauptspielplan integrieren und mit ihnen künftig auch das Große Haus bespielen. Die Idee ist hehr, könnten doch die Jüngsten so nicht nur durch die Stücke erreicht werden, sondern schon früh eine Akzeptanz für die Kulturinstitution des Theaters geschaffen werden. Nicht zuletzt würde man auf diese Weise sicher auch die Annahme des Kinder- und Jugendtheaters als ernstzunehmendes Genre und als Aufgabe der Schauspielhäuser stärken.
Zumindest im Bereich des Kindertheaters hat sich bisher jedoch wenig getan. Statt im Großen Haus wird das Kinderstück Großer Wolf und kleiner Wolf in diesem Jahr in der Bellevue-Bar im Foyer des ersten Ranges gegeben. Man muss das allerdings nicht als vertane Chance sehen, denn was der Göttinger Regisseurin Lisa van Buren in der kleinen Bar mit ihrer Inszenierung gelingt, ist beachtlich.
Das Stück kommt dabei fast vollständig ohne Dialoge aus, was Karl Miller (großer Wolf) und Gerd Zinck (kleiner Wolf) einiges an Gestik und Mimik abverlangt. Sie finden sofort den Kontakt zum Publikum. Die Kinder sind begeistert und bleiben die ganze Aufführung bei der Sache, obwohl die Inszenierung nicht als Mitmach-Theater ausgelegt ist. Indem sie Gestik und Mimik deutlich übersteigern, tappen die beiden Schauspieler leider hin und wieder in das Fettnäpfchen des intendierten Overactings, das für Kinderstücke manchmal fast schon zum guten Ton zu gehören scheint. Ob das wirklich nötig ist, darf bezweifelt werden, sollte die einfache Geschichte für die Jüngsten doch auch ohne Slapstickeinlagen verständlich und unterhaltsam sein. Zumindest im jungen Teil des Publikums scheint sich aber niemand daran zu stören. Im Gegenteil: Die Kinder gehen mit und entwickeln sichtbar Sympathie für die beiden Akteure. Das dürfte Figuren und Schauspielern zu danken sein, aber auch der räumlichen Inszenierung. Durch das Bespielen des gesamten Raumes ist das Publikum mitten im Geschehen. Der Abstand der ersten Sitzreihe zum Bühnenrand beträgt gerade einmal einen Meter und wenn die Wölfe den Zuschauerraum betreten, wird das Konzept einer illusionistischen Bühne zugunsten der Teilhabe am Geschehen vollständig aufgegeben. Ebenso intelligent ist die Verwendung der Hinterbühne, die aus den Fluren der Theaterbar besteht: Immer wieder verschwindet einer der Wölfe aus dem Sichtfeld des Publikums, der andere Wolf bleibt meist fragend zurück und teilt sich Wissen und Sicht mit dem Publikum, was zu einer Identifikation mit der Figur führt.
Wenn Wölfe sich Orangen schälen: Gerd Zinck und Karl Miller
Die lichtdurchflutete Bar im ersten Rang des Theaters auf diese Weise zu nutzen, war von Regisseurin van Buren intendiert: Man wolle erreichen, »dass gerade die kleineren Zuschauer nicht in einen dunklen Theaterraum kommen und dem Geschehen sehr nah sein können«. Das Publikum somit sanft und indirekt einzubinden, sieht van Buren auch in Bezug auf die Thematik des Stücks als Aufgabe. Insbesondere das Kindertheater biete die Möglichkeit, sich mit einfachen und alltäglichen Gegebenheiten auseinanderzusetzen, die auch Erwachsene betreffen. Bei Großer Wolf und kleiner Wolf ist das die Situation, einen fremden Menschen kennenzulernen. Es geht um Nähe und Distanz, um Privatsphäre und Grenzen, letztlich also um die Grundlagen eines gesellschaftlichen Miteinanders. In diesem Zusammenhang sieht van Buren das Theater als »Teststrecke, um für und mit Kindern auszutesten, wo Grenzen liegen, was gefährlich ist und was nicht, was Spaß macht und was man miteinander teilen kann. Ob das jetzt ein Spiel, ein Abenteuer oder sonst was ist, wofür man Mut braucht oder wo es gar nicht schlimm ist, vielleicht auch mal keinen zu haben.«
Dass dieser Testlauf funktioniert und auch für Erwachsene unterhaltsam ist, liegt nicht zuletzt an den witzigen Einfällen von Bühnenbild (Johannes Frei) und Requisite (Jörg C. Kachel, Sabine Jahn). Der Baum, unter dem der große Wolf wohnt, ist zugleich ein perfekt sortiertes Regal, das in seine Einzelteile zerlegt werden kann. Die Fahrradklingel fungiert als Wecker und Tasse zugleich und die topisch gewordene Frage nach dem richtigen Pellen des Frühstückseies wird mit beinahe Loriot’scher Komik beim Schälen einer Orange zelebriert. Damit wird ein Abstraktionsniveau eingeführt, das für alle Altersklassen den Spaß beim Zuschauen garantiert. Entsprechend gab es am Ende großen Beifall für eine Inszenierung, die Erwachsene und Kinder zugleich unterhalten konnte.