Linda, Erwin, Finn, Ira, Thomas, Monika, Mira, Gaby, Josef, Frau und Herr Schmitt suchen ihr Glück – oder: Was will, was kann Theater denn mehr erreichen, als Fragen aufzuwerfen? Das Deutsche Theater in Göttingen zeigt Dea Lohers Diebe.
Von Malte Gerloff
Die Glocke läutet, die Türen klappen, der Vorhang geht auf. Und wieder zu. Ein extrem unmodisch gekleideter Mann mittleren Alters ist inzwischen zwischen dem Vorhang hervorgeschlüpft. Er trägt eine lange Unterhose, in hellblau. »Mehrfach hat man mich getötet«, sagt er, »mit der Hand«, fährt er fort, bevor er wieder abtritt, um kurz danach erneut aufzutreten. Er wiederholt seinen Part und ergänzt: »mit dem Messer.« Er tritt wieder ab. »Und doch bin ich immer noch hier«, sagte er kurz vorher.
Ab hier ist also klar: Die Inszenierung spielt nicht nur mit dem zugrunde liegenden Text, sondern vor allem mit der Wahrnehmung des Publikums, denn der Vorhang bleibt stets in Bewegung, verengt und erweitert fortwährend die Perspektive des Zuschauers, die so auf das unruhige Treiben im Hintergrund gelenkt wird. Mit dauernder Bewegung schreiten dort die Schauspieler unwirklich betriebsam hin und her, tauchen in immer neuen Positionen und Posen auf, treten aus der zunächst anonym scheinenden Masse hervor und gehen wieder in dieser wieder unter: auf zwei Stühlen vor der Rückwand sitzend, vor einem Fenster, das nur als Rahmen dient, und dann und wann rollt munter der rote Ball mit den weißen Punkten durchs Bild. Es wird in das Leben der Figuren gezoomt, wir sehen sie in Alltagssituationen, nach und nach bekommt jede dieser Gestalten des Hintergrundes ein Gesicht, tritt langsam aus der Anonymität hervor, wird ein Charakter des Spiels. Charaktere, die sich selbst inszenieren. Die Regieanweisungen werden von den Figuren mitgesprochen, so dass diese in die Figurenrede ein- und übergehen und so Teil der Figuren werden – eine Potenzierung des Theatralischen: Jedes Individuum spielt nur noch seine Schau, in einer Wirklichkeit in der nichts mehr wirklich wirkt, alles nur noch scheint.
Linda, Erwin, Finn
Und so tritt Linda Thomason hervor, erzählt und spielt ihre Einsamkeit vor, die sie so überrollt, dass sie sich selbst eine imaginäre Familie erschafft und beim Frühstück wie beim Einkaufen so handelt, als ob sie zu dritt leben würde, mit Mann und Kind. Sie lässt mit ihrem magnetischen Finger ein kleines rotes Auto durch das Bild von links nach recht, von rechts nach links rollen. Der Effekt wird burlesk gespielt, indem man deutlich den Schauspieler, der den Anfangsmonolog hielt, das Auto durch das Bild ziehen sieht. Jeden vierten Sonntag fährt sie dann Erwin besuchen. Erwin fiel bisher dadurch auf, dass er zwei Stühle durch den Background getragen hat. Erwin ist der ins Altersheim abgeschobene Vater Lindas, der sich nichts sehnlicher wünscht, als endlich wieder ein normales Gespräch zu führen. Ein Gespräch fernab von Krankheiten. Später wird sich herausstellen, dass der eingangs Sprechende Lindas Bruder Finn war – ja war. Denn erst mit dessen Selbstmord, den Linda ihrem Vater als Auswanderung nach Japan unterjubeln will, werden diese Bande mit letzter Klarheit deutlich. Davor sehen wir Finn, wie er einsam in seiner Wohnung steht und davon in den Regieanweisungen fabulierend berichtet, wie er die Nummern der Versicherten, die er als Makler vertrat, an die kahlen Wände schrieb.
Und es tritt noch eine andere Frau Thomason aus dem Grau hervor. Sie ist Supermarktangestellte, hofft auf eine Beförderung, lernt Holländisch, um ihre Chancen zu verbessern, damit sie Marktleiterin in den Niederlanden werden kann, falls ihr Konzern den anderen Konzern übernehmen sollte. Doch es kommt auch hier anders: Ihr Konzern wird von dem niederländischen Konzern geschluckt, und sie wird gefeuert. Nachdem ihr das Angebot unterbreitet worden war, nachdem sie ihrem Mann gesagt hatte, dass sie sich erstmal trennen müssten, dass sie erstmal ohne ihn nach ins Ausland ginge, dass er dann nach einiger Zeit mit dem Kind nachkommen könne. Er sitzt stoisch auf dem Sofa neben ihr, ganz der Polizist im Innendienst, der weiß, was es heißt, Dinge auszusitzen. Beide stellen lakonisch fest, dass keiner gehen wolle. Sie steht auf, er zieht seine Pistole und schießt. Schießt, schießt und schießt nochmals. Diese Szene wird gut und gerne zehnmal beim Abgehen von der Bühne von den Schauspielern wiederholt. Etwas später tritt die eigentlich Gestorbene wieder auf, führt einen Secondhand-Shop mit zwei Angestellten. Beide sind dem Zuschauer bekannt, die eine überlegt, ob sie aufgrund ihrer minderjährigen Jugend abtreiben lassen will, obwohl sie dann ihren Geliebten, den Bestatter Josef Erbarmen, verliert oder nicht, dazu schwebt noch über ihrem Dasein die Frage nach ihrer Herkunft, denn sie ist das Produkt einer Samenspenden.
Josef Erbarmen
Diese Herkunft versucht Josef Erbarmen herauszufinden. Man lächelt noch über ihn, als er sagt, dass er noch beobachte. Man lacht, als das Spießbürger-Ehepaar versucht, ein Tier, das sie möglicherweise in ihren Gewohnheiten studiere, mit übertriebener Sorgsamkeit aus ihrem Garten zu vertreiben. Bis die Auflösung kam. Und Josef entdeckt und gefragt wird, was er denn da in ihrem Garten tue. Er würde sie beobachten, ihre Lebensgewohnheiten studieren. Danach lebt er als unbeteiligter Beobachter zwischen dem Ehepaar, bis er schließlich hinweg gebeten werden soll. Da platzt er mit der Frage heraus, ob der Ehemann nicht während seiner Studentenzeit gespendet hätte? Da muss der angesehene Familienvater raus mit der Wahrheit, die sich hinter der Fassade des bürgerlichen Scheins versteckt hielt: »Es gab eine Zeit, da war ich etwas freigiebiger mit meinem Erbgut.« Doch von dem, was aus dem Erbgut geworden ist, wollen auch sie nichts mehr wissen. Obwohl ihr leibliches Kind wohl keine Enkel zeugen wird, wollen sie auch nichts von dem Enkel wissen, den die namenlose minderjährige Verkäuferin nun doch gebären will.
Und die andere Verkäuferin wurde von Reiner abgezockt. Doch als er sie im Wald erdrosseln will, ergreift sie rabiatere Methoden und beherzt in Rainers Kronjuwelen. Dieser gibt sich geschlagen und wird von ihr nach Hause gefahren. Sie zeigt ihn nicht an. Rainer erfährt von Finns Tod, gibt sich als alter Schulfreund aus . Er lernt so die einsame Linda kennen und versucht die Erbschleicher-Nummer: »Ich habe ihm zehntausend Euro gegeben.« Derweil wird Erwin von der Hafensängerin, die seit dreiundvierzig Jahren auf ihren Mann wartet, sitzen gelassen.
Glückliche Selbstverleugnung
Und so scheint jene Lebensweisheit des Ehepaars Thomason gleichzeitig als großes Motto über dem Stück zu schweben: »Wir haben doch keine Not!« Obwohl natürlich hinter den märchenhaft verspielten Passagen genau diese Not das Thema ist. Die Not, die nur anscheinend keine ist, bloß weil sie die nackte Existenz nicht bedroht. Und eben doch sind diese Zivilisationskrankheiten genau dieses. Es geht um die Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit, um den Punkt im Leben, wenn der geplante Lebenslauf bricht und wie dies alles unter dem Schein glücklicher Selbstverleugnung begraben wird, ergo: wie man vor den Problemen wegläuft.
Und durch die geschickt gewählte Veränderung der zeitlichen Ordnung, die nicht nur als bloßer Wechsel der Reihenfolge zu verstehen ist, wie es etwa bei Pulp Fiction der Fall ist, entsteht die Möglichkeit einer Vorführung des Möglichen innerhalb des Absurden, welches sich bei einer genauerer Betrachtung der Lage wieder einer, wenn auch überhöhten Form von Realität annährt. Dass diese Form des Absurden eine Rückbezüglichkeit auf die Realität gewinnen kann, liegt an der Wahl der gewählten Stilmittel. So wird in der Gesamtheit des Stückes eine Annährung an die Burleske, den Schwank gewagt. Daraus resultiert dann folglich der Einsatz von slap-stick-Elementen und Gesang. Dieser Gesang setzt wegen seiner häufigen Wiederholung leider manchmal etwas störend ein, neben dem einzigen anderen, verzeihbaren Schwachpunkt, das eine wirkliche anonyme Masse fehlte, um der hintergründlichen Bewegung die absolute Alltäglichkeit zu geben.
Menschen auf der Absturzkante
All dies Angedeutete, das sich zu Worten verdichtet, so das Reich der Phantasie erreicht, all das Gesehene, das etwas märchenhaft Verspieltes erlangt. Das sich teilweise selbst auf die Schippe nimmt, aber in einer Art, die einem etwas sagen will. Doch dann ist diese vorgespiegelte Leichtigkeit nur die präsentierte Oberfläche, und das ganze Darunter, diese traurigen Geschichten, die einen bewegen, die seltsam durch die leicht schräge, leicht schrullige Komik fast mit einer fettig glänzenden Glasur überzogen worden sind, die dann aber bei einem genaueren Blick aufbricht. Wie nach einem festen Biss, daher diese Traurigkeit, diese unermessliche Traurigkeit dieser Gestalten an der Absturzkante, die inmitten der Gesellschaft entlangläuft. So dass die Frage auftaucht, die allzeit aktuell ist, ob man neben all den so platt wirkenden Dingen so leben möchte und, daraus folgernd, wie man denn tatsächlich leben möchte? Und was will Theater denn mehr erreichen, als Fragen aufwerfen?