Mit Thea Dorn und Richard Wagner erklärt uns endlich jemand die bisher unergründeten Tiefen der zerrissenen deutschen Seele. Die Deutsche Seele ist eine Sammlung von Plattitüden und Klischees, die noch nicht einmal komisch ist, befindet Sabrina Wagner, die das Buch unter die Lupe nahm.
Von Sabrina Wagner
Der Deutsche isst Abendbrot. Pedantisch angerichtet mit Butter (»dünn bestrichen«), Schinken (Schwarzwälder), Käse (Tilsiter) und sauren Gurken (»zum Ende hin blättrig aufgefächert«). Das jedenfalls behauptet das erste Kapitel »Abendbrot« in der Enzyklopädie der deutschen Seele von Thea Dorn und Richard Wagner. Sollte sich ein Leser damit schon zu Beginn des Buches in seinen Essgewohnheiten verkannt und in eine Identitätskrise gestürzt sehen, möge er nicht gleich verzweifeln, vielleicht klappt es ja bei den nächsten Beispielen besser mit der Identifikation. In 64 weiteren Artikeln wird erklärt, was die komplexe Eigenheit und Besonderheit des Deutschen im Allgemeinen so problematisch macht. Entlang des folgenden Begriffskatalogs suchen die Autoren, »die Kultur, in der wir leben, in allen Tiefen, in ihrer Größe und Schönheit zu erkunden«:
Abendbrot, Abendstille, Abgrund, Arbeitswut, Bauhaus, Bergfilm, Bierdurst, Bruder Baum, Buchdruck, Dauerwelle, Doktor Faust, Eisenbahn, E(rnst) und U(nterhaltung), Fachwerkhaus, Fahrvergnügen, Feierabend, Forschungsreise, Freikörperkultur, Fußball, Gemütlichkeit, German Angst, Grenzen, Gründerzeit, Grundgesetz, Hanse, Heimat, Jugendherberge, Kindergarten, Kirchensteuer, Kitsch, Kleinstaaterei, Krieg und Frieden, Kulturnation, Männerchor, Mittelgebirge, Musik, Mutterkreuz, Mystik, Narrenfreiheit, Ordnungsliebe, Pfarrhaus, Puppenhaus, Querdenker, Rabenmutter, Reformation, Reinheitsgebot, Schadenfreude, Schrebergarten, Sehnsucht, Sozialstaat, Spargelzeit, Spießbürger, Strandkorb, das Unheimliche, Vater Rhein, Vereinsmeier, Waldeinsamkeit, Wanderlust, Das Weib, Weihnachtsmarkt, Wiedergutmachung, Winnetou, Wurst, Zerrissenheit.
So, lieber Leser: Jetzt weißt Du, was Deine deutsche Seele »im innersten zusammenhält« (so Martin Walser in seiner überaus wohlwollenden Rezension in der ZEIT). Dass diese Schlagwörter allenfalls eine willkürliche Auswahl zu nennen sind, scheint die doch meist positiven Rezensionen der letzten Monate kaum zu trüben.
Man kann das Buch von A bis Z lesen oder aber sich am Leitfaden orientieren, den die Autoren dem Leser mitgeben, indem sie am Ende eines jeden Kapitels die Schlagwörter der nach ihrer Meinung passenden Artikel nennen. Der Versuch, in diesem Leitfaden eine Logik oder wenigstens eine nachvollziehbare Assoziationskette zu erkennen, scheiterte: Wer beispielsweise am Ende des Kapitels »Fachwerkhaus« angekommen ist, dem wird dann mit den Begriffsempfehlungen ein Interesse unterstellt an: »Arbeitswut«, »Bauhaus«, »Doktor Faustus«, »Gemütlichkeit« oder »Mittelgebirge«. An anderer Stelle führt die Empfehlung den Leser nach dem unschätzbaren Erkenntniswert im »Winnetou«-Kapitel zur Lektion über »Freikörperkultur«, »Gründerzeit«, »Kitsch«, »Sehnsucht« und »Spießbürger«.
Könnte man schließlich die sprachliche und formale Vielfalt der einzelnen Kapitel als stilistisch-ästhetische Umsetzung der proklamierten Zerrissenheit und Vielschichtigkeit des erfragten Seelenwesens verstehen? Mitnichten. Leider ist der Text auch handwerklich kaum gut zu nennen. Es bleibt schlicht eine Sammlung von Plattitüden und Klischees, die noch nicht einmal komisch sind.
Doch selbst das könnte man noch hinnehmen und versuchen, sich auf die einzelnen Artikel einzulassen, sich an dem ein oder anderen erfreuen, sich tatsächlich amüsieren, wäre das Ganze nicht so unsäglich pathetisch, romantisch verklärend und mit der explizit formulierten Intention einer Endlich-traut-sich-jemand-die-Wahrheit-zu-sagen-Haltung aufgeladen. Die Frage »Was ist deutsch?« ist ja nicht erst in Mode, seit besagte Autoren dieses Buch präsentiert haben und lockt so richtig weder eine Provokation noch Begeisterungsstürme beim breiten Leserpublikum hervor. Wenn überhaupt, scheint es sich hier um 500 Seiten Wohlfühl-Lektüre für die älteren Semester zu handeln; in bildungsbürgerlich geprägten kleinen und mittelgroßen Universitätsstädten war das Buch zeitweise in den Buchhandlungen vergriffen, aber eine wirklich breite mediale Aufmerksamkeit konnte es nicht erreichen.
Gescheitert ist schließlich auch der Versuch von Thea Dorn, ihre deutsche Seele auf Facebook zu verbreiten, wo sie »kleine Stücke der deutschen Seele« postet – im Wesentlichen sind das Fotos von Gartenzwergen irgendwo in Deutschland. Bezeichnend, dass die Seite aktuell gerade einmal 114 Gefällt-mir-Fans hat – das ist, wie wir wissen, so gut wie eine Nichtexistenz in der seelenlosen Facebook-Welt. Hier scheint der Verdacht bestätigt, dass die einzigen begeisterten Leser das unaufhaltsam alternde, in weiten Teilen kulturpessimistische Bildungsbürgertum sind, das die gute alte Zeit beschwörenden Sätze im Buch gern mitsingt.
Die Autoren haben sich wohl eine größere mediale Aufmerksamkeit mit diesem Buch versprochen, vermutlich sollte der Titel einschlagen als neuer Beitrag eines deutschen Patriotismusdiskurses. Im Vorwort waren sich die Autoren nicht einmal zu schade, noch einmal das Sarrazin-Buch zu bemühen, indem sie konstatieren: »Wir machen uns keine Sorgen, dass Deutschland sich abschafft. Wir sehen nur, dass es sich herunter wirtschaftet. Sein Gedächtnis verliert.« Thea Dorn wird seit Monaten nicht müde, in wirklich jeder öffentlich-rechtlichen Talksendung dem Publikum ihre »Liebeserklärung« an die deutsche Seele zu formulieren und zu betonen, dass »wir die Scheu im Umgang mit Fahne und Hymne ablegen dürfen, und die Welt uns dennoch nicht hasst«. Den Co-Autor Richard Wagner sieht und hört man übrigens auffallend selten auf dieser Promotiontour durch die Medien. Dabei passte sein Name doch so wunderbar auf den Buchtitel: Richard Wagner über der deutschen Seele – zu platt aber offensichtlich die Provokation, als dass da irgendjemand vernehmbar aufgeschrien hätte.
Und was bleibt nun am Ende der Lektüre? Nichts als die Bestätigung der ewigen Zerrissenheit. So schließt das Buch mit dem Satz: »Lasst mir meine Zerrissenheit. Sie ist das Beste, was ich habe.« Wie traurig.