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Zwischen Becken und Glasfront

Zwischen Prosa und Lyrik: Silke Scheuermann war zu Gast im Literarischen Zentrum und trug neben ausgewählten Passagen aus ihrem neuesten Roman Shanghai Performance auch einige ihrer Gedichte vor. Rüdiger Brandis besuchte die Lesung und zeigt sich von Scheuermanns Prosa wenig überzeugt – wohl aber von ihrer Lyrik.

Von Rüdiger Brandis

Vor ungefähr einem halben Jahr rezensierte ich hier auf Litlog Silke Scheuermanns Roman Die Stunde zwischen Hund und Wolf. Mit »Ich bin nichts …« zitierte ich in meinem Titel den Beginn ihres Werkes, der damals für mich bereits programmatisch auf den gesamten Roman vorausdeutete: geschrieben in wundervollen Sätzen, doch im Plot und der Figurengestaltung leer und seelenlos. Man sah an der Textgestaltung, dass hier eine Lyrikerin schrieb. Nun hatte ich die Chance Silke Scheuermann bei einer Lesung ihres neusten Prosawerkes und einiger ihrer Gedichte im Literarischen Zentrum Göttingen zu erleben.

Raum, Körper, Zeit

Unter der Moderation von Christoph Jürgensen, Literaturwissenschaftler an der Universität Göttingen, teilte sich der Abend in einen ersten Teil, in dem Scheuermann aus ihrem neusten Roman Shanghai Performance las und einen zweiten, der sich einigen ihrer Lyrikwerke widmete. Jürgensen trat von Beginn an sehr souverän auf und stellte gezielte Fragen zu der Programmatik und den Inhalten ihrer Werke, wohingegen Scheuermann schüchtern und zurückhaltend wirkte. Dies drückte sich auch in ihrer Lesung von Shanghai Performance aus, bei der sie die Textpassagen mit leiser und monotoner Stimme las. Inhaltlich fühlte ich mich schnell an Die Stunde zwischen Hund und Wolf erinnert. Geschrieben in der Ich-Pespektive reist die Erzählerin nach Shanghai, wo sie noch einmal ihrer Chefin Margot als Assistentin für die Inszenierung ihrer Performance-Kunst dienen soll. Gerade von ihrem Freund wegen ihrer Unselbstständigkeit verlassen, folgt die Erzählerin ein letztes mal ihrem Idol und entdeckt dabei, dass auch Margots Leben nicht so vollkommen ist, wie sie es sich immer ausgemalt hat.

In den vorgelesenen Passagen tritt die Erzählerin stark in den Hintergrund und verschwindet fast hinter den Beschreibungen ihrer Umwelt, der Stadt und vor allem hinter denen von Margot. Wie in ihrem Vorgängerwerk legt Scheuermann den Fokus auf die Beschreibung von Raum. Neben dieser Betonung von Räumlichkeit spielen Körper eine große Rolle. Immer wieder beschreibt die Ich-Erzählerin die Wirkung von Kleidung und Aussehen anderer Menschen, ihre Bewegungen und Ausstrahlungen. In diesem Zuge treten auch Gefühle in den Vordergrund, welche allerdings in den vorgetragenen Auszügen sehr ort- und zeitgebunden bleiben. Daher erfuhr man in den ausgewählten Textpassagen eine Menge über die Gefühle der Erzählerin in Bezug auf plötzliche Eindrücke von Menschen und Orten, allerdings sehr wenig über tiefer greifende Gefühle, die der Ich-Erzählerin eine konturenreichere Persönlichkeit hätten verleihen könnten.

Auch in dem an die Lesung anschließenden Gespräch mit Jürgensen stellte Scheuermann die Bedeutung dieser Themenbereiche für sie heraus. Sie bezeichnete den Plot als einen pragmatischen, in dem sie »die Wirkung von Räumen und Orten auf Menschen« beschrieb. Es geht ihr um Wechselbeziehungen, um Aktionen und Reaktionen, um Verwandlungen. Ob Shanghai Performance die Probleme seines Vorgängers überwunden hat, konnte ich aus den gelesenen Auszügen jedoch nicht entnehmen. Einen interessanten Ansatz und eine wunderschöne Sprache bietet das Werk aber auf jeden Fall.

Verwandlungsgedichte

Mit dem Wechsel zur Lesung ihrer Lyrik wechselte Scheuermanns Auftreten. Das monotone Vorlesen der Prosa wich einer sanften Rhythmik, welche sich wunderbar der Stimmung ihrer Gedichte anpasste. Sie las aus ihrem Gedichtband Und über Nacht ist es Winter, in welchem sie sich ebenfalls mit Veränderungen und Verwandlungen auseinandersetzt. Besonders hervorgehoben werden von ihr die beiden Gedichte »Der Tätowierer« und »Der Tätowierte«, welche im Kontrast zueinander die verschiedenen Blickwinkel desselben Ereignisses beschreiben. Stimmungsvoll setzen die Gedichte Gefühle ins Zentrum und spielen mit den Bildern und Assoziationen, die sie hervorrufen. In Und über Nacht ist es Winter sieht Scheuermann das Gegenstück zu Die Stunde zwischen Hund und Wolf, was sie darin begründet, dass sie beide Werke zeitnah geschrieben hat. Dies hebt noch einmal hervor, wie dominant sich das Verwandlungsmotiv durch ihr Gesamtwerk zieht und wie sehr ihre Lyrik mit ihrer Prosa verknüpft ist.

Überzeugt?

Was kann ich zum Abschluss sagen? Hat mich die Lesung nun doch von Scheuermanns Prosa überzeugt? Nein, das hat sie nicht, sie hat mich aber auch nicht weiter verschreckt. Ihre Affinität zur Lyrik ist noch immer allgegenwärtig. Das spürte man während ihrer Lesung aus Shanghai Performance und noch deutlicher durch ihre Ausdrucksstärke in den Gedichten. Wer also eine sehr akribisch konstruierte Prosa lesen möchte, der greife ohne Bedenken zu Scheuermanns Werken. Was mich betrifft, bleibe ich vorerst bei ihrer Lyrik und stelle mir vor, dass der Beginn von Die Stunde zwischen Hund und Wolf in Versen verfasst worden wäre, denn dann hätte ich tatsächlich das verlorene Nichts »zwischen Becken und Glasfront« gespürt.



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 Veröffentlicht am 8. Juni 2011
 Mit freundlicher Genehmigung vom Literarischen Zentrum.
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