Völlig zu recht stand er 2010 auf der Shortlist des deutschen Buchpreises. Mit einem Thema, das sich irgendwo zwischen ernsthafter Migrationsdebatte, der Flucht des Judentums und einer außergewöhnlich schrägen »Familie« abspielt, schreibt Doron Rabinovici mit Andernorts interessante und anspruchsvolle Literatur. Ein Wissenschaftler, der rastlos durch die Welt reist und versucht, voller Zynismus Heimat zu definieren, ist der Mittelpunkt eines Buches, das gespickt mit schwarzem Humor und lustig skurrilen Charakteren unterhält und einen nicht zu viel nachdenken lässt.
Von Jan Heemann
Man kann auf fast jeder Seite des Buches über den schwarzen Humor des jüdischen Autors lachen. Und natürlich ist auch dieser halbwegs biographische Roman über das Vergessen, Verschweigen und die Identitätssuche voll von kleinen Denkanstößen und großen Kritikpunkten, die einmal offensiv und dann wieder subtil angesprochen werden. Die Frage ist nur, für welche Art zu lesen man sich entscheidet.
Die Leiden eines modernen JudenEthan Rosen, ein in Wien lebender Jude und weltweit ein angesehener Soziologe, erfährt zu Beginn des Buches vom Tod eines guten Freundes, ist aber kaum in der Lage, seine Trauer auszudrücken. Als er den Nachruf aus der Feder eines Kollegen und Konkurrenten um einen Lehrstuhl liest und sich kritisch erwähnt findet, beginnt der Abstieg des Akademikers. Rosens Vater, ein Überlebender des Holocaust, erkrankt schwer, und auch Ethans neue Liebe ist mehr eine Randfigur, die ihm nicht über seine Probleme hinweg helfen kann. Die Romanze zwischen den beiden gleitet zum Glück zu keinem Zeitpunkt ins Kitschige ab, was auch darauf zurückzuführen ist, dass sie niemals Mittelpunkt des Buches ist.
Die Geschichte schlägt in genau den richtigen Momenten um. Just in dem Moment, in dem der Leser anfängt, in die Routine von Ethan einzutauchen, ob das nun die Arbeit, die Versöhnung mit dem potentiellen Halbbruder oder die Kontakte mit der Familie sind, schlägt Doron Rabinovici zu und lüftet ein neues Geheimnis um Ethan Rosen und seine Familie. Der Leser fühlt sich in solchen Passagen entweder verschaukelt oder lacht über die Absurditäten, die zutage treten, wenn er denn ausreichend schwarzen Humor besitzt.
Er und der andereDie zwei Charaktere Ethan und Klausinger sind beide auf der Suche. Und obwohl der Letztere ein konkreteres Ziel vor Augen hat, wirkt er stärker wie der Suchende, während Ethan als der Findende erscheint, auch wenn er nicht findet, was er sucht. Der unterschwellige, jiddisch gefärbte sarkastische Humor macht das Lesen trotz des schweren Stoffes leicht und angenehm. Als beispielsweise über eine Nierentransplantation für den kranken Vater geredet wird, bemerkt eine Verwandte in Hinsicht auf islamistische Selbstmordanschläge: »Jeder tote Attentäter verschleudere seine zwei Nieren in alle Himmelsrichtungen, von den Körper der Opfer ganz zu schweigen.«
Mit ausreichend schwarzem Humor lässt sich der gesamte Verfall der Familie auf eine brutal komische Art und Weise lesen. Während der neue Halbbruder einfach akzeptiert wird und mit ihm ja auch ein Seitensprung, erscheint es am Ende so, als sei überhaupt niemand mehr der Sohn von irgendwem. Schließlich gerät das Begräbnis des Vaters zu einem Diskussionsanlass für eine fundamentalistische Debatte, bei der sich die Mitglieder der Familie anschreien und der Rabbi auf einmal von Apokalypse, Vernichtung und Katastrophe des Judentums spricht. Und selbst die orthodoxen Juden, von denen einer Ethan nach seinem ledernen Gebetsriemen fragt, werden von Rabinovici noch mit dem Kommentar abgespeist: »der mich am liebsten mit seinem Gebetsriemen an die Tradition gefesselt, als ginge es um ein sadomasochistisches Liebesspiel.«
Und ewig bleibt die Frage…Der Roman schlägt auch ernste Töne an. Das Thema der Judenintegration und des Volkes ohne Land wird zwar oft, aber selten so prägnant beleuchtet wie von Rabinovici. So einsam, wie sich der Protagonist in seiner Familie und in seiner Wahlheimat fühlt, liest sich Andernorts eher wie ein Desintegrationsroman. Die großen schriftstellerischen Künste von Rabinovici zeigen sich gerade in den Tonbandaufnahmen des am Anfang des Romans verstorbenen Freundes von Ethan, der über die Juden und über das Vergessen so bildhaft, aber gleichzeitig auch so melancholisch spricht. Diese kommentieren das Schicksal der Juden, aber auch den Roman selbst, stets mit polemischem Einschlag:
Für mich muss kein Kaddisch gesprochen werden. Meinetwegen braucht es keine Gebete und Trauerreden. Sie werden Nachrufe schreiben, werden eine Tafel enthüllen oder das Wartehäuschen an einer Bushaltestelle nach mir benennen. Überall ist zu lesen, wer diese Parkbank, jenen Kinositz oder irgendein Blumenbeet gespendet hat. Bald wird jedes Jerusalemer Pissoir an irgendeinen Moische Pischer aus New York erinnern. Urinale gegen das Vergessen. Öffentliche Bedürfnisanstalten des Gedenkens. Stille Örtchen gegen das Schweigen.
Das Zitat, um den sich der gesamte Roman aufbaut, ist ein Gedanke von Ethan Rosen, den man nach dem Lesen des Buches nur zu gut nachvollziehen kann:
»Heimat ist jener Ort, wo einem am fremdesten zumute ist.«