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Wohnprojekt auf Zeit

Mahala Dreams, so lautet der Titel des aktuellen Stücks des Göttinger boat people projekts. Der Weg führt jedoch nicht ins Theater, sondern in die leerliegende Einkaufsgalerie des Cheltenham House. Zusätzlich wird behauptet, die drei Darsteller würden gar nicht schauspielern. Dass man es hier mit einem ungewöhnlichen Stück zu tun hat, steht fest.

Von Marie Krutmann

Neugierig betreten die Gäste die verlassene Einkaufsgalerie. Am Ende des Raums ist eine Bretterwand aufgebaut, in der Mitte stehen drei Hocker. Ansonsten verrät das Bühnenbild nicht viel über das, was kommen soll. Schon beginnt die große Suche nach den freien Plätzen, in diesem Falle nach freien Pappkartons zum Sitzen. Doch als es sich schließlich jeder irgendwo bequem gemacht hat, heißt es auch schon, man solle sich doch bitte wieder anziehen und den Raum verlassen. Was ist denn nun los? Langsam wird das Publikum aus der Galerie geführt. Ein Raunen geht durch den Zug von Menschen, der sich nun immer weiter von der Galerie entfernt. Schließlich erreichen wir die Albanikirche. Beim Betreten ertönt Orgelmusik, das Publikum wird gebeten sich auf die Emporen an den Seiten zu stellen. Zwei Frauen und ein Mann liegen auf den Kirchenbänken, ihre Stimmen hallen durch den Raum. Es handelt sich um Bibelzitate, die auf Nächstenliebe und Gastfreundschaft verweisen. Die Atmosphäre ist entsprechend andächtig und die Mienen der Zuschauer ernst. Doch da passiert es schon wieder. Es heißt, man solle die Kirche so schnell wie möglich wieder verlassen, da draußen bereits eine Gruppe Asylsuchender auf Einlass warte.

Ein Experiment

Zurück auf dem Karton in dem alten Geschäft erscheint das zuvor erlebte Ereignis in der Kirche ganz unwirklich. Die Darsteller sind auf einmal ganz munter, jeder Hauch von Ernsthaftigkeit ist wie weggeblasen. Franziska Aeschlimann, Darstellerin des boat people projekts, ergreift das Wort und richtet sich direkt ans Publikum. Man habe es hier mit einem Experiment zu tun, bei dem sie alle sich selbst darstellen. Das Konzept ist schnell erklärt: drei Menschen unterschiedlicher Herkunft leben für fünf Wochen gemeinsam als Wohngemeinschaft in der Einkaufsgalerie. Die gebürtige Schweizerin ist Schauspielerin und wohnt normalerweise mit ihrer Familie zusammen in Göttingen. Bei ihrer jüngeren Kollegin handelt es sich um Vera Bilbija. Sie ist gebürtig aus Belgrad, aufgewachsen in Bosnien, lebt aber heute in Barcelona, wo sie sich angeblich lediglich mit dem Ausüben von Yoga beschäftigt, da es sowieso keine Arbeit für sie gäbe. Der dritte im Bunde ist der Roma–Aktivist Irfan Nezir aus Skopje. Dieser ist ausschließlich für die Produktion von Mahala Dreams nach Deutschland gekommen und muss das Land nach Ablauf der fünf Wochen wieder verlassen. Wie eine Attraktion moderieren seine zwei Bühnen-Kolleginnen ihn an, als er freudig strahlend auf das Publikum zugeht und Konfetti in die Menge streut. Doch ganz so begeistert sind sie von ihrem Mitbewohner nicht immer.

Talkshow-Klischees

Abends wird Theater gespielt. Nicht für das Publikum, sondern füreinander. Das Lieblingsspiel lautet offensichtlich »Talkshow« und so wird Aeschlimann zur Maischberger, Bilbija zur Fakten predigenden Expertin. Nezir spielt wie immer sich selbst und nebenbei das Roma-Mädchen Sunita, die statt Schule ihre bevorstehende Hochzeit im Kopf hat. Sie alle spielen ein Klischee, wodurch die entstehende Diskussion überspitzt wirkt. Der Talkshow-Jingle ertönt und die Frage lautet: Wollen Sie Roma oder Sinti als Nachbarn haben? Einen Moment lang hat man das Gefühl, die Frage richte sich ans Publikum, doch da geht es auch schon weiter. Sind wir intolerant? Tun wir ihnen unrecht? Aber sie sprechen ja nicht mal deutsch und warum arbeiten sie nicht? Während Aeschlimann und Bilbija keine Sekunde aus ihrer Rolle fallen, hat man bei Nezir das Gefühl, die Diskussion löse etwas in ihm aus. Was für Menschen sind es denn, die hierher kommen möchten? »Es sind Menschen«. Über die Antwort können die Frauen nur lachen. Das Spiel wird langweilig, also wird etwas Neues gesucht. Aus den Sitzboxen unter ihnen werden immer neue Kostüme gezaubert und so folgt ein Szenario auf das nächste. Die zwei Frauen tanzen wild gestikulierend durch den Raum und laufen dabei ab und an in das geheime Zimmer hinter der Wand, um mit immer absurderen Kostümen herauszuspazieren. Währenddessen spielt die Band unbeirrt östlich klingende Tanz-Lieder. Der einzige, der nicht so recht weiß, was er anfangen soll, ist der Roma, den, bei aller Liebe, keine der Frauen so richtig dabei haben mag.

Wie lautet das Zauberwort?

Die Volksabstimmung hat ergeben, das Weihnachtszimmer bleibt abgeschlossen. Den Schlüssel haben die Frauen und Nezir kennt das Zauberwort nicht. Nachts träumt er, wie sich ein roter Teppich vor ihm ausbreitet, der ihm den Weg zu dem Zimmer ermöglicht. Es ist nur ein Traum aber was würde passieren, wenn man ihm tatsächlich den roten Teppich ausrollt? Das Zauberwort lautet »Ermessensspielraum«. Nezir nimmt den Schlüssel und wird auf einmal ein ganz neuer Mensch. Strahlend singend, rennt er hin und her, doch schon bald bereuen die Frauen ihre Gutmütigkeit. Denn nun bringt er seine ganze »Sippe« mit zu ihnen. Ganz nach dem Motto: reichst du ihm den kleinen Finger, nimmt er gleich die ganze Hand. Die Frauen sind sauer, da sie nun selbst keinen Platz mehr in dem Raum haben.

Das Stück

Mahala Dreams
in der Passage im Cheltenham House
Text: Luise Rist
Regie: Nina de la Chevallerie
Musik: Hans Kaul
mit Vera Bilbija, Franziska Aeschlimann, Irfan Nezir

 

boat people projekt

Unter diesem Label werden seit 2009 Theaterstücke mit einem gemischten Ensemble inszeniert, zu dem Flüchtlinge und Kunstschaffende aus den Bereichen Schauspiel, Musik und Tanz gehören. Der Name boat people projekt (bpp) steht programmatisch für die Arbeit des Teams. Die künstlerische Auseinandersetzung mit Flucht und Flüchtenden steht im Mittelpunkt der Theaterproduktionen. Die Stücke sind politisch, weil sie konkrete Ereignisse und Geschichten von Flüchtenden erzählen, sie sind poetisch, weil das dokumentarische Material zu einer Fiktion verdichtet wird.

 
 
Unterhaltung bleibt in diesem Stück in keinem Falle aus. Die Musik sowie der Einsatz von Ton- und Video-Installationen sorgen für eine besondere Atmosphäre. Nur der Teppichladen, den man durch das Schaufenster hinter den Darstellern sieht, erinnert daran, wo wir uns eigentlich befinden. Zwischendurch läuft eine Gruppe von Passanten durch die Galerie und bleibt verwundert stehen, als sie sehen, wie Bilbija mit blonder Perücke und ausgestopftem Dekolletee ihr Spiegelbild in der Scheibe betrachtet. Es wird viel gelacht und doch wird man zwischendurch immer wieder aus dem bunten Treiben gerissen, wenn eine Eilmeldung der Asylsuchenden aus der Albanikirche nebenan herüber kommt. Auf einmal ist wieder ein Bezug zur Realität hergestellt. Denn obgleich man weiß, dass dort nichts dergleichen tatsächlich parallel geschieht, war man ja selbst vorher dort und hat Platz für diese Menschen gemacht.

Kein Schauspiel?

Es sei die Idee des boat people projekts gewesen, sie einzusperren und zu sehen, was passiert, wenn sie keine Rolle, sondern sich selber spielen. Aber warum fiel die Wahl dann gerade auf drei Personen mit Schauspielerfahrung? Darüber wundert sich auch Aeschlimann, die erklärt, sie könne nicht gut sie selbst sein. Es wirkt aber auch nicht so, als würde sie dies wirklich versuchen. Ähnlich verhält es sich mit Bilbija, von der man eigentlich kein richtiges Bild erhält, da sie von Rolle zu Rolle stürzt. Am überzeugendsten spielt Nezir seine Rolle, doch auch er stellt sich irgendwann die Frage: »Spiele ich den Roma für euch oder bin ich einer?«. Was ist real was ist gespielt? Diese Frage muss sich der Zuschauer selbst beantworten, aber spielt es überhaupt eine Rolle? Mahala bedeutet Nachbarschaft. Dass es nicht so einfach ist wie es in den Bibelzitaten klingt, wird anhand der zahlreichen Szenarien vielseitig bewiesen.



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 Veröffentlicht am 13. Januar 2014
 Bild von Reimar de la Chevallerie mit freundlicher Genehmigung des boat people projekts.
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