Erwähnung von Suizid
19 Jahre alt, vom Teufel als Liebhaber träumend: Die rebellische Autorin Mary MacLane ist überzeugt von sich. Drei Monate hält sie ihre Eindrücke vom Leben im Tagebuch fest. Das Besondere? Ich erwarte die Ankunft des Teufels erschien vor 118 Jahren. Die deutsche Erstausgabe erst jetzt.
Von Lena Hofmann
»Ich, neunzehn Jahre alt und im weiblichen Geschlecht geboren, werde jetzt, so vollständig und ehrlich wie ich kann, eine Darstellung von mir selbst verfassen, Mary MacLane, die in der Welt nicht ihresgleichen kennt.« Die amerikanische Autorin Mary MacLane veröffentlicht 1902 ihr erstes, im Stile eines Tagebuchs verfasstes Werk Ich erwarte die Ankunft des Teufels (im Original unter dem Titel The Story of Mary MacLane erschienen) und wird mit dem skandalträchtigen Buch zu einem Star. Im ersten Monat werden über 100.000 Exemplare verkauft: Ein wahnsinniger Erfolg. Reporter*innen aus dem ganzen Land besuchen ihre Heimatstadt Butte, Cocktails werden nach ihr benannt, und der Name Mary MacLane wird zum Inbegriff weiblicher Rebellion.
Die Sehnsucht nach mehrIrgendwo zwischen Euphorie und Todessehnsucht schreibt MacLane über ihr Leben in einer Bergbaustadt in Montana, das ihr wenig Aussicht auf all das verspricht, wonach die junge Frau sich so sehr sehnt: intellektuelle Stimulation, Ruhm, Leidenschaft. Als eines von vier Kindern verspürt sie keine Zuneigung oder Verbindung zu ihrer Familie. Sie ist ihr regelrecht fremd:
Ich bin die Einzige von den sechs, deren Geist gegen die Dinge aufschreit.
Auch sonst hat Mary MacLane keine Verbündeten. Nur ihre ehemalige Lehrerin Fanny Corbin – mehr als zehn Jahre älter als sie – stellt für MacLane eine Bezugsperson dar, die ihre romantischen Gefühle jedoch nicht erwidert. Dabei beschreibt sie die junge Lehrerin als ihre einzige, wahre Freundin und offenbart den Lesenden Einblicke in ihre Gefühle:
Gibt es denn viele Dinge in dieser kaltherzigen Welt, die so entzückend sind wie die reine Liebe einer Frau für eine andere Frau?
Doch Fanny Corbin ist längst fort. Sie hat Butte verlassen und wird von MacLane lediglich in ihrem Tagebuch als eine ihrer wichtigsten Erinnerungen konserviert.
Geistig isoliert von den Menschen um sie herum dokumentiert die junge Autorin so die Gedanken einer Einsamen, die sich nichts sehnlicher wünscht, als die Leere mit Inhalt zu füllen: sowohl die äußere, karge Umgebung Buttes als auch die innere, die MacLane regelrecht aufzufressen scheint. Dies kann man zahlreichen Passagen im Buch entnehmen – unter anderem, wenn sie vom eigenen Freitod als Ausweg aus ihrem Elend schreibt. MacLane sehnt sich zudem nach einem Liebhaber – Napoleon oder am besten der Teufel selbst – und träumt von Leidenschaft, von einem erfüllten, sinnlichen Leben. Sie will mehr. Hat sie doch »den Keim eines intensiven Lebens« in sich. In der Realität sieht sich MacLane jedoch mit nichts weiter konfrontiert als der tristen Landschaft Buttes, ihren häuslichen Pflichten und den vorherrschenden, konservativen Konventionen der ländlich-amerikanischen Gesellschaft um die Jahrhundertwende.
MacLane hält dennoch dagegen an und kritisiert diese Konventionen. Unter anderem stellt sie das Konzept der Ehe an den Pranger – »Wie viele von ihnen lieben einander? Garantiert nicht einmal zwei von hundert. Das Eheritual ist der einzige, mickrige Grund, aus dem sie zusammenleben« – und reflektiert ihr Leben als Frau auf eine Weise, die einen unwillkürlich zum Lachen bringt:
»Aber ich bin eine Frau. Ich wache auf, und nachdem ich aufgewacht bin und mich umgesehen habe, möchte ich mich umdrehen und wieder einschlafen.«
Die junge Autorin fordert bewusst die Grenzen ihrer Zeit heraus. Wut und Ekel gegenüber den Schranken, die die Gesellschaft Frauen auferlegt und durch die sie zu einem »gewöhnlichen« Leben verdammt werden, sind starke, feministische Motive im Text – und werden so rhythmisch-melodisch wie eingängig beschrieben, dass man das Buch nach Beginn der Lektüre nicht mehr aus der Hand legen kann.
Die (Wieder-)Entdeckung eines Genies»Ich bin ein Genie – ein Genie ganz eigener Art«, davon ist MacLane überzeugt und betont dies in ihrem Buch gleich mehrfach. Was aus heutiger Perspektive, 118 Jahre nach Erscheinen des autobiographischen Textes, extrem, aber nicht wirklich skandalös wirken mag, kam 1902 einer gesellschaftlichen Erschütterung gleich. Eine so junge Frau, die selbstbewusst die gängigen Konventionen hinterfragt? Ja, ihre persönlichsten Gedanken offen und provokant für alle publik macht? In der Bergbauregion Montana um 1900 undenkbar und doch genau so geschehen. Nun ist das Buch erstmals in deutscher Übersetzung im Reclam Verlag erschienen. Übersetzt wurde es von Ann Cotten, die die Energie und Wortgewalt der Autorin auf fantastische Weise aus dem Englischen ins Deutsche transportiert und die Ausgabe zudem um ein kluges Nachwort bereichert. Hinzu kommt ein Essay zum Werk von Juliane Liebert, das MacLanes Werk mit Informationen zum Kontext und zur Rezeptionsgeschichte anreichert. Beide Texte ergänzen das
Nach Mary MacLanes skandalösem Debüt folgen noch weitere, autobiographische Texte sowie ihr Stummfilm Men Who Made Love To Me (1918), in dem sie selbst – wenig überraschend – die Hauptrolle spielt. Bis zu ihrem Tod 1929 mit gerade einmal 48 Jahren wird sie durch ihren non-konformen Lebensstil, die offen gelebte Bisexualität sowie ihre feministischen Ansichten immer wieder für großes Aufsehen sorgen: »The Wild Woman of Butte« war ihrer Zeit stets ein Stück voraus.
In einem der zahlreichen Interviews, das der Entdeckung der skandalträchtigen Autorin folgt, prophezeit MacLane der Journalistin Zona Gale, dass die Welt sie nicht vergesse. 50 Jahre nach ihrem Tod würde man ihr erstes Buch für ein Meisterwerk halten – so die selbstbewusste, junge Frau. Es dauerte etwas länger als 50 Jahre, aber dank ihrer Wiederentdeckung im 21. Jahrhundert ist es nun möglich, das in der Zwischenzeit in Vergessenheit geratene Genie in ihren Werken neu zu entdecken. 2011 wurde eine erweiterte Anthologie mit dem Titel Human Days: A Mary MacLane Reader veröffentlicht. Zudem schrieb Bojana Novakovic, eine serbisch australische Schauspielerin, das Theaterstück The Story of Mary MacLane – By Herself, das im Dezember desselben Jahres auch aufgeführt wurde. 2013 erschien dann The Story of Mary MacLane in einer Neuausgabe unter dem ursprünglich von MacLane gewünschten Titel I Await the Devil’s Coming.
Warum diese späte Wiederentdeckung – über hundert Jahre nach der Erstveröffentlichung des Tagebuchs? Man kann nur annehmen, dass es insbesondere MacLanes starke feministische Stimme ist, die die Aufmerksamkeit wieder auf ihr Werk ziehen konnte und heute ebenso wie 1902 durch ihre unerschütterliche Klarheit und Direktheit beeindruckt. Seit dieser Wiederentdeckung wurde das Buch ins Französische, Dänische, Spanische und 2020 nun auch ins Deutsche übersetzt. Diese Entwicklung hätte Mary MacLane sicherlich mit aller Dringlichkeit befürwortet.