Für seinen Roman Die unsichtbare Loge von 1793 hat Jean Paul ein medizinisches Phänomen herangezogen, das die Inselgruppe St. Kilda nachhaltig beschäftigte. Zwar konnte er es ebenso wenig erklären wie seine Zeitgenoss*innen, er machte es jedoch für sein eigenes Erzählen fruchtbar.
Von Katrin Wellnitz
In Zeiten von Corona werden Werke wie Albert Camusʼ La Peste ganz neu entdeckt. Die literarische Auseinandersetzung mit medizinischen Katastrophensituationen erzählt von überwundenen Krisen und kann mitunter den Blick für aktuelle Herausforderungen schärfen. Ihre Literarisierung gibt zudem Aufschluss über den Umgang mit historischem Quellenmaterial – so auch Jean Pauls literarisch-satirische Bearbeitung eines epidemischen Phänomens von der Inselgruppe St. Kilda.
Mit ihren steilen Klippen zählt St. Kilda zu den Äußeren Hebriden vor Schottland und ist heute ein beliebtes Ziel für Wissenschaftler*innen und Insel-Romantiker*innen. Darüber hinaus hat sich die Geschichte ihrer Bewohner*innen auch einen besonderen Platz in der Literatur- und Kunstwelt erobert. Diverse Filme, literarische Bearbeitungen und eine Oper erzählen Geschichten von den Inselbewohner*innen, die bis zur Evakuierung der Insel im Jahr 1930 ein isoliertes und entbehrungsreiches Leben führten.
Seit dem 15. Jahrhundert haben zahlreiche Reiseberichte das Leben auf St. Kilda für die Außenwelt festgehalten. Sie zeugen von den besonderen Lebensbedingungen auf den Inseln, aber auch von Problemen, die mit dem Besuch aus der Fremde einhergingen. Insbesondere im 18. Jahrhundert wurden Berichte verfasst, die ein besonderes medizinisches Phänomen beschreiben: Immer wieder beobachteten Reisende, dass die Inselbewohner*innen kurz nach der Ankunft fremder Boote und dem ersten Kontakt mit Besucher*innen grippeartige Symptome entwickelten. Logisch begründen konnten die Berichtenden dieses Phänomen zumeist nicht, und offene Fragen überwogen. Erkälteten sich die Bewohner*innen St. Kildas etwa immer, wenn sie ein ankommendes Boot aus dem kalten Wasser zogen? Oder verursachte ein starker Ostwind die Symptome?
Im Jahr 2008 ist eine Studie des australischen Medizinhistorikers Peter Stride erschienen, die das Phänomen noch einmal sachlich unter die Lupe nimmt und die plötzlichen Erkrankungen medizinisch begründet (in diesem Jahr hat Peter Stride zudem einen St. Kilda-Roman mit dem Titel The Islands of Death veröffentlicht. Hier scheint allerdings die Fiktion im Vordergrund zu stehen und es ist fraglich, inwiefern Stride sein medizinhistorisches Wissen hat einfließen lassen): Als Ursache nennt Stride mangelhafte Resistenzen, sich kreuzende Viruserkrankungen und den gleichzeitigen Ausbruch des sogenannten Rhinovirus.
Ende des 18. Jahrhunderts blieb das Phänomen jedoch rätselhaft und seine Deutung vage. Reiseberichte machten es einem breiteren Lesepublikum zugänglich und ließen auch Außenstehende miträtseln. Sehr anschaulich schildert zum Beispiel der Naturwissenschaftler und Altertumsforscher Thomas Pennant seine Insel-Eindrücke – hier zitiert aus einem Reisebericht von 1769 (in einer Übersetzung von Johann Philipp Ebeling):
Wie ich hier war, so blieben alle Einwohner die beiden ersten Tage völlig gesund, und ich freute mich schon, eine Erzählung widerlegen zu können, von der ich die Ursache nicht einsehen konnte. Allein den dritten Tag zeigten sich schon Heischerkeit, Husten und andre Zeichen eines heftigen Schnupfens bey ihnen, und in acht Tagen waren alle davon angesteckt.
Es scheint nicht ganz unwahrscheinlich, dass Pennant bei seiner Niederschrift Kenneth Macaulys populären kolonialistischen Bericht The History of St. Kilda von 1764 eingesehen hat, denn die Schilderungen der beiden Autoren zu den beobachteten Krankheitssymptomen ähneln sich doch sehr.
Das ganze Land hustet – St. Kilda bei Jean PaulAuch der junge Satiriker und Romancier Jean Paul stöberte dieses Phänomen auf: Als satirische Weiterdichtung ging es in seinen Roman Die unsichtbare Loge von 1793 ein. Im Vordergrund scheint bei seiner Adaption die gelehrige und gleichzeitig spielerische Literarisierung von Weltwissen aus dem Zettelkasten zu stehen, die durch das Setzen einer Fußnote mit Quellenangabe – hier mit Verweis auf Friedrich Nicolais Allgemeine deutsche Bibliothek – unterstrichen wird.1 Gleichsam scheint er mit seiner Literarisierung auch auf die ungewisse und teils verrätselte Ursache dieses medizinischen Phänomens zu reagieren.
Die Leitmotivik des Romans ist geprägt von vielfältigen Krankheitsnarrativen, die den Insel-Exkurs sinnvoll rahmen: Immer wieder nimmt der Erzähler Bezug auf körperliche, teils psychosomatisch gefärbte Gebrechen und outet sich schließlich selbst als »Hypochondrist«. Die Insel-Adaption schließt an den psychosomatischen Grundton des Werks an, denn Jean Paul wandelt das medizinische Phänomen von St. Kilda in seiner Weiterdichtung zugunsten einer psychologischen Betrachtungsweise ab.
Die geschilderten Symptome der Inselbewohner*innen werden als literarischer Exkurs in die Romanhandlung eingebunden; dieser findet sich in den »Zehnten Sektor« eingefügt und ist enigmatisch mit dem Titel »Extrazeilen über die Besuchsbräune, die alle Scheerauerinnen befällt bei dem Anblick einer fremden Dame« überschrieben. »Besuchsbräune« lässt sich laut Kommentar als Halsentzündung entschlüsseln und als Scheerauerinnen werden die Bewohnerinnen des fiktiven Fürstentums Scheerau bezeichnet, das weitab von der schottischen Inselgruppe eine ganz andere Geschichte erzählt. Zunächst fasst der Autor-Erzähler jedoch das Phänomen von St. Kilda zusammen:
Auf der Insel St. Kilda geschieht, wenn ein Fremder da aus dem Schiff aussteigt, ein Unglück, das noch kein Philosoph erklären konnte – das ganze Land hustet seinetwegen. Alle Dörfer, alle Körperschaften, alle Alter husten – kauft sich der Passagier etwas ein, so umhustet ihn der Nährstand – unter dem Tor tuts der Wehrstand; […] Es hilft gar nichts, zum Arzt zu gehen – der bellt selber ärger als seine Kunden und ist seiner eigner Kunde…
Er greift insbesondere das Symptom des Hustens auf und lässt es poetisch über die Inselgruppe wandern. Auch markiert er dabei das Unerklärbare an der Situation, an der sich selbst Philosophen die Zähne ausbeißen müssten. Das Satirische klingt hier schon an, wird aber erst im folgenden Abschnitt zum Grundton erhoben.
Die Scheerauer Besuchsbräune: eine ironische WeiterdichtungIm Folgenden dichtet Jean Paul das medizinische Phänomen ironisch weiter, indem er es auf die Damenwelt von Scheerau überträgt:
Eine fremde Dame setze ihren netten Fuß in das Posthaus, in den Konzert- oder Tanzsaal, in irgendein Visitenzimmer: sogleich sind alle Scheerauerinnen genötigt zu husten und – was allzeit von einem schlimmen Hals herkommt – leiser zu reden – allen fliegt die Bräune an, d.h. die angina vera.
Diese sei geprägt von Zeichen wie »Hitze (daher das Fächern), Kälte, schweres Atemholen, Phantasien, aufgeblähte Nasenflügel, steigender Busen«. Nun wird die satirische Verformung des Quellenmaterials noch potenziert: »Ist aber (welches der Himmel abkehre) die eintretende Fremde die schönste – die bescheidenste – die reichste – die geehrteste – die am meisten gefeierte – die geschmackvollste – so wird keine einzige Leidende im Krankensaale kuriert[.]«
Inspirationen aus dem ZettelkastenFraglich bleibt, ob Jean Paul die ernste Lage der Inselbewohner*innen überhaupt glaubhaft erschien. Vielleicht wäre seine literarisch-bissige Weiterdichtung des St. Kilda-Phänomens nicht entstanden, wenn ein gesichertes Faktenwissen die Symptome enträtselt und historisch verifiziert hätte. Aus heutiger Sicht könnte seine literarische Ausbeute anmaßend wirken, weil sie die historische Tragweite des Phänomens unterläuft und dabei gar nicht versucht, sich lange mit dem tatsächlichen Geschehen auseinanderzusetzen; der Bezug zu St. Kilda dient vielmehr als Aufhänger für die scheerausche Fiktion, als Inspiration aus dem Zettelkasten.
Während die Umstände der Insel-Epidemie in der heutigen Zeit wissenschaftlich erschlossen sind, war Jean Paul mit einer Vielzahl von vagen und teilweise unlogischen Erklärungsansätzen konfrontiert. Mit seiner überspitzten Scheerau-Geschichte führt er die Deutungen des Phänomens – nicht aber unbedingt dasselbe – ad absurdum.
Jean Paul hat seiner Adaption das historische Phänomen samt Quellenangabe vorangestellt und nicht zuletzt damit den fiktionalen Status seiner weitergedichteten Insel-Geschichte markiert. Von St. Kilda und den tatsächlichen epidemologischen Zusammenhängen erfahren die Lesenden dabei zwar nur wenig, wie spieltriebig der Autor seinen Scheerau-Bericht aus der Zettelkasten-Information entwickelt hat, können sie aber gut nachvollziehen. So wird, ausgehend von einem Belegzettel, ein ganzes Fürstentum aus dem Boden gestampft und mit ironischem Personal belebt. St. Kilda ist in Jean Pauls Roman als rätselhafte und kaum zu ergründende Fremde ins Fiktive gespiegelt und dort neu perspektiviert. Für die Bewohner*innen von St. Kilda und ihren Besuch waren die Symptome mehr als nur eine literarisierte Fußnote aus dem Zettelkasten, und die Beschäftigung mit der Inselgeschichte zeigt, wie einschneidend sie das Inselleben geprägt haben.
Jean Paul wird dieser historischen Tragweite kaum gerecht, verwischt sie vielmehr mit seiner ironischen Adaption. So lässt sich aus dieser Passage auch wenig über den Umgang mit tatsächlichen epidemischen Zuständen lernen, und der Eindruck drängt sich auf, dass sie insbesondere gestaltet wurde, um den psychosomatischen Grundton des Werks einmal mehr anklingen zu lassen. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht ist diese Arbeit mit historischen Versatzstücken allerdings höchst interessant, gibt sie doch Aufschluss darüber, wie schnell sich künstlerische Montagen aus historischem Material im Fiktiven verlieren können. Es hängt dann von den jeweiligen Autor*innen ab, ob dies ein Gang ins Leere wird, oder ob der Sinn der Adaption erhalten bleibt. Hier gewinnt Jean Pauls Literarisierung vor allem durch das Spannungsverhältnis von verifizierender Quellenangabe und offensichtlich ironischer Weiterdichtung; gerade das Voranstellen des überlieferten Phänomens unterläuft eine bloß passive Rezeption und lädt zum Graben unter der satirischen Oberfläche ein.