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Grausame Absichten

Das Theater im OP inszeniert Gefährliche Liebschaften. Man kennt die Vorbilder, umgeht die bloße Imitation – aber auch eine Neuerfindung. Über ein Schauspiel, das den reinen Text feiert, das sich von einer großen Tradition löst und doch keinen eigenen Standpunkt findet.

Von Kai Sina

Wer im Vorfeld zu einem Theaterabend, an dem die Gefährlichen Liebschaften gegeben werden, seine Kenntnisse über diesen Stoff etwa in der Neufassung des Kindler auffrischen will, stößt einerseits auf einen Artikel zum 1782 publizierten Briefroman Les Liaisons dangereuses von Cholderlos des Laclos, andererseits auf einen Artikel zur Dramatisierung des Stoffes durch den britischen Drehbuchautor und Regisseur Christopher Hampton, die in den mittleren 1980er Jahren nicht nur Gegenstand einer gefeierten Theaterproduktion der Royal Shakespeare Company wurde, sondern überdies Grundlage für zwei filmische Adaptionen jener berühmten Geschichte über ein grausames Spiel um Sex, Macht und Rache.

Dass der Übersetzung dieses Stückes ins Dramatische im Kindler ein eigener Artikel gewidmet wurde, obwohl sie inhaltlich eng am Roman gearbeitet ist, deutet auf eine eigenständige Ausstrahlung hin, vor allem durch eine ganz bestimmte Weiterverarbeitung: Der mit drei Oscars ausgezeichnete Film von Stephen Frears von 1988 wurde ein Welterfolg, nicht zuletzt dank des grandiosen Ensembles um John Malkovich in der Rolle des schillernden Vicomte de Valmont und Glenn Close als eiskalte Marquise de Merteuil. Und apropos eiskalt: Wir erinnern uns an eine zweite Verfilmung, die gleichwohl nicht mehr auf Hamptons Vorlage beruht: In Cruel Intentions, zu deutsch: Eiskalte Engel verlegte Robert Kumble die Handlung ins snobistische Neuengland der späten neunziger Jahre und besetzt mit Sarah Michelle Gellar und Ryan Phillippe zwei unverbrauchte Gesichter, die dem Stoff zu neuem Leben verhelfen konnten.

Bilder im Kopf

Nach dieser Gedächtnisauffrischung erscheinen einem diese Bilder vor dem inneren Auge: das merkwürdige Lächeln Malkovichs, in dem die unauflösliche Ambivalenz der Figur des Vicomte zwischen Lust und Gefühl, Berechnung und Kontrollverlust so eindringlich zum Ausdruck kommt; oder auch: Sarah Michelle Gellar als attraktive Bestie, die ihre soziale Umwelt fast spieltheoretisch zu durchschauen scheint, bis sich das bloß anscheinend regelhafte Spiel durch eine ungeahnte Größe – die ehrliche, aufrichtige Liebe – verselbständigt.

Theater im OP

Das Theater im OP (ThOP) ist das Universitätstheater der Georg-August-Universität Göttingen, gegründet 1984 von der dramaturgischen Abteilung des Seminars für Deutsche Philologie. Seine Aufgabe ist die Vermittlung theaterpraktischer Kompetenzen. Gespielt wird in einem ehemaligen Schauoperationssaal einer alten chirurgischen Klinik. Die Zuschauer sitzen zu drei Seiten auf Tribünen, das Schauspiel findet in der Saalmitte statt. Mehr? Hier: www.thop.uni-goettingen.de
 
 

Und ob man will oder nicht: Mit diesen Bildern im Kopf betritt der Zuschauer an diesem Abend das Theater im OP, und er fragt sich, wie sich die Regisseure Helle Körner und Sven Körner den Stoff wohl zueigen machen werden, wie sich dieses junge Ensemble in die Rezeptionsgeschichte einschreiben wird – und eben diese gespannte Erwartung des Zuschauers wird wohl ganz bewusst enttäuscht. Da fällt zunächst auf, dass die Inszenierung fast jede zeitliche Verortung – und damit jede angestrengte Konstruktion eines Gegenwartsbezugs – verhindern will. Zwar bewegt sich der übrigens von Alissa und Martin Walser ins Deutsche übertragene Dramentext Hamptons im Duktus jener gespreizten Adelssprache des 18. Jahrhunderts. Die fast kulissenfreie Bühne verweigert dagegen jeden konkreten Zeitbezug. Fast ironisch unterlaufen wird die Erwartungshaltung des Zuschauers auch durch die Kleidung und Gestalt der Schauspieler: Sandra Coors kleidet sich in der Rolle der Marquise genau wie Gellar ins kurze Schwarze; David Bolik als Vicomte verweist mit seinen langen Haaren und säuselndem Timbre ziemlich offensichtlich auf Malkovich.

Das ist ein geschickter Schachzug der Regisseure, und der Appell an die Zuschauer scheint deutlich: Ja, wir sind uns der Traditionen bewusst! Ja, wir kennen die Bilder in euren Köpfen! Und in diesem lauten Zitat klingt leise die drängelnde Frage mit: Können wir uns jetzt endlich dem Kern der Sache widmen? Der Kern der Sache, das sind in diesem Fall: Sprache und Handlung, eher unterstützt als überlagert von Regie und Performance. Kritiker des Regietheaters hätten an dieser Umsetzung vermutlich ihre Freude, eine Umsetzung, die irgendwie auch zu einem akademischen Theater passt, zumal an diesem eigenwilligen Ort, der Schauspieler in die Rolle von Ärzten bringt, deren dramatischer Operation am nackten Textkörper die Zuschauer beiwohnen dürfen.

Zerbrechende Welten

Gleichzeitig erzeugt diese Reduktion eine nicht geringe Fallhöhe. Wo die Inszenierung durch den Regisseur in den Hintergrund tritt, treten die Interpretationen der Schauspieler in den Vordergrund – und hier ergibt sich insgesamt ein durchaus zwiespältiges Bild: Wenn etwa Johanna Lal als keusch-katholische Marie de Tourvel oder Dorothea Heicke als naiv-verliebte Cecile de Volanges durch diskretes Spiel die Verletztbarkeit moralischer Überzeugungen und die Brüchigkeit religiöser Weltbilder zur Darstellung bringen, dann lässt sich tatsächlich ein Eindruck davon gewinnen, wie es wohl sein muss, wenn innere Welten komplett aus den Fugen geraten. »Um Himmelswillen. Sie müssen mich verlassen, wenn sie mich nicht umbringen wollen!« Es ist eindrucksvoll zu sehen, wie Lal diesen Pathos, ja: Kitsch mit nüchterner Ernsthaftigkeit auf die Bühne bringt. Gleichzeitig ist das sola scriptura-Prinzip, dem sich die Regisseure verschrieben haben, nicht davor gefeit, schlicht langweilig zu werden: Die Selbstbeschränkung der Hauptdarsteller auf den immer gleichen blasierten Tonfall und die immer gleichen obszönen Gesten erzeugen auf die Dauer eine Gleichförmigkeit, die keinen Raum für eine sensible Offenlegung der durch die Liebe aufklaffenden Brüche in der kalten Weltkonstruktion dieser Figuren zulässt.

»Die Diskreditierung aller menschlichen Seeleninhalte und ihrer Ausdrucksformen als möglicher Trug- und Machtmittel« hat Hugo Friedrich einmal als Kern des spätbarocken Briefromans bezeichnet. Diese vielschichtige Untergrabung unumstößlich geglaubter Welt- und Menschenbilder auf Seiten der Keuschen, der Guten wie auch der Durchtriebenen, der Bösen gelingt dieser Inszenierung, die sich so gewitzt von ihren Vorbildern emanzipiert, nur zum Teil. Aber immerhin: Wo es gelingt, die Ambivalenz der menschlichen Dinge zur Darstellung zu bringen, gelingt Großes.



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 Veröffentlicht am 3. Mai 2010
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 Theater im OP (Göttingen)
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