In ihrem neuen Buch thematisiert Iris Radisch das große Ganze: Sie beleuchtet, was es heißt, in der Gewissheit des existenziellen Momentums, im Angesicht des baldigen Todes, den Schleier der Vergangenheit zur Seite zu ziehen und Bilanz zu wagen. Was zum Vorschein kommt, sind die »letzten Dinge«, jene Facetten, die den Prozess aus Selbsterkenntnis und Selbstbetrug überdauern – die Essenz eines Lebens.
Von Roman Seebeck
Die letzten Dinge, das sind 18 Lebensendgespräche, die die Leiterin des Feuilletons der ZEIT zwischen 1990 und 2015 mit literarischen Schwergewichten unterschiedlichster Nationen, die sich im Spätherbst ihres Lebens und Wirkens befinden, geführt hat. Dabei verhandelt sie die untrennbaren großen Fragen des Lebens und der Literatur. Was für ein Leben hat man geführt, was kommt danach? Gibt es einen Sinn im Leben, kann man sich ihm schreibend nähern? Wie bewertet man das eigene Werk, wie die Resonanz, die es erzeugt hat? Die besondere Gewichtung der Fragen entsteht durch ihre Perspektive, sie zeigen, »wie der nahe Tod ihren Blick auf die Welt verändert«. Der Tod ist dabei weit mehr als eine anthropologische Konstante, er ist Verhandlungsgegenstand und Katalysator, er lässt den Vorhang fallen und bringt ein weites emotionales Spektrum aus Bitterkeit, Gelassenheit, Weisheit und Lebensfreude zum Vorschein.
Der besondere Sound der Gespräche ensteht durch ihre berührende, mitunter desillusionierende Authentizität. Sie sind keine ins Philosophisch-
Transzendente abdriftenden Dialoge, sondern zeichnen sich durch eine thematische Offenheit und Unmittelbarkeit aus, die den Leser unmissverständlich mit einbezieht. »Die Masken dürfen fallen« schreibt Radisch in ihrem Vorwort, in der Erwartung, auf Schriftsteller zu treffen, die zur Lebensbeichte bereit sind oder mit letzter Kraft den Kopf hochhalten. Sie alle sehen sich mit dem unmissverständlichen Faktum konfrontiert, dass das Leben endlich ist, unabhängig davon, was für ein Leben man gelebt hat. Die nivellierende Totalität des Todes kehrt das Menschliche aus dem Menschen heraus und bringt den Leser in unmittelbaren Kontakt mit gefeierten Literaten, fernab erdrückender Lobhudelei. Jedes Gespräch entwickelt so seine ganz eigene Eschatologie, eine zutiefst persönliche Lehre von den letzten Dingen, die je nach Gemüt den Tod oder das Leben selbst in den Vordergrund rücken. Der Prozess des Sprechens beziehungsweise Schreibens über den Tod wird dabei mitthematisiert. Der Ungar Péter Nádas, der im Zuge einer Nahtoderfahrung den Tod literarisch zu verarbeiten versucht, verdeutlicht das Problem, über ein Phänomen zu sprechen, das außerhalb der Sprache angesiedelt ist. Für ihn ist »die Rede von Anfang und Ende nur ein kultureller Topos«, den er zwar sprachlich nicht zu erklären weiß, aber dennoch in prophetischer Manier hinzufügt: »Danach ist es gut, alles ist besser«.
Das Leben und den Tod schriftstellerisch zu greifen, das schwingt in allen Gesprächen mit. Als Schriftsteller sehen sie in der künstlerischen Verarbeitung von Vergangenem und Gegenwärtigem ihre Lebensaufgabe. Die letzten Dinge zu betrachten, das bedeutet demnach für den Schriftsteller auch, einen Schlussstrich zu ziehen oder weiterzuschreiben.
Hochkultur und HolocaustRadischs Gesprächspartner sind viel mehr als nur Schriftsteller, ob Günther Grass, Martin Walser oder Julien Green, sie alle sind Zeitzeugen, Chronisten und Angehörige einer Generation, die im Begriff ist, die Weltbühne zu verlassen. Ihre Werke legen Zeugnis ab über das 20. Jahrhundert, ihr Jahrhundert. Viele Gespräche wandeln am Rand des Abgrundes der Zeit, sie thematisieren das, was ihre Protagonisten erlebt haben, kulturelle Blüte, Totalitarismus und die ewige Frage, ob es der Zufall oder ein Determinismus ist, der die Geschichte zu dem werden lässt, was sie ist. Im Zentrum der Debatte steht der Holocaust, den Radisch auf biographischem Wege im Gespräch mit Überlebenden wie Imre Kertész, Ruth Klüger oder Marcel Reich-Ranicki zu ergründen versucht. Wie schwer die unfreiwillige Rolle als Überlebender der Schoah wiegt, verdeutlicht Ruth Klüger, die sich bewusst ist: »Ich bin ein Stück Geschichte. Das ist natürlich nicht unbedingt angenehm«. Von der Katastrophe des 20. Jahrhunderts ausgehend, gerät jedes Gespräch zu einer personalisierten Rückschau durch das vergangene Jahrhundert, die mitunter zum Parforceritt ausufert und den Rezipienten in seiner Dynamik überrumpelt. Die Sprache, der sich Radischs Protagonisten bedienen, zeugt ebenfalls von den unterschiedlichen Reaktionen, die sich in Auseinandersetzung mit dem Jahrhundert gefunden haben: Während Andrej Bitow vor Pathos schäumt, hat es Ilse Aichinger die Sprache beinahe völlig verschlagen. Es entwickeln sich so ganz unterschiedliche epochale Lesarten.
Desillusionierung und strahlender OptimismusNicht jedem von Radischs Interviewpartnern gelingt es, sich mit dem Leben zu versöhnen. Während einige die große weiße Leinwand, die zwischen Geburt und Tod auf der Bühne des Lebens gespannt ist, auch am Ende stets in hellen Farben gestalten, malen andere in tiefstem Schwarz. Zu Letzteren gehört Ilse Aichinger, die sich im täglichen Abgleich von Vergangenem und Gegenwärtigen in einen Fatalismus windet, der sich in Desillusionierung und Verfremdung mit ihrer Lebenswelt äußert. Aichinger ist alles fremd geworden, die Zeit, in der sie lebt, die Menschen, die ihr begegnen, die Werke, die sie geschrieben hat. Für sie hat der Krieg eine ganz andere, paradoxe Wirkung gehabt, die sie heute nicht mehr zu spüren vermag. »Der Krieg war meine glücklichste Zeit« bilanziert sie mit Wehmut über jenen Lebensabschnitt, in dem die existenziellen Nöte für sie eine vitalisierende Antriebskraft darstellten: »Die Kriegszeit war voller Hoffnung«. Die Katastrophe des 20. Jahrhunderts besteht für Aichinger vielmehr in der Postkatastrophe als in der Katastrophe selbst, da erst dann den Menschen bewusst wird, »was für eine Katastrophe es ist, ohne Katastrophe zu leben«. Auf ihrer Suche nach Antworten begegnet Radisch aber auch unerschütterlichen Gesprächspartnern wie Peter Rühmkorf, den sie Ende der 1990er Jahre in Hamburg besucht. Mit zwei Flaschen Aldi-Sekt bewaffnet, führt der Wortakrobat Rühmkorf Radisch und den Leser aufs Glatteis der Sprache. Sein Tagesablauf als alternder Schriftsteller, das sieht in etwa so aus: Nach vormittäglichem Sonnen im Liegestuhl, »wo ich Himmelsplankton durchsiebe«, und einer fünfstündigen Schreibattacke auf der Olympia folgt der erste Sekt, »und ich notier die Perlen«. Nach einer Stunde »Todesschlaf« am frühen Abend geht es dann nochmal »mit Galopp durch die Nacht«.
Die Unzufriedenheit, die bleibtWer es weniger pathetisch mag, der hält sich an Patrick Modiano. Nüchtern und ein wenig verlegen eröffnet der Nobelpreisträger von 2014 Einblicke in seine Gefühlswelt. Aus einer durch abwesende Eltern geprägten Pariser Kindheit heraus kanalisiert Modiano Jahr für Jahr die Kraft, um einen Roman zu schreiben, der, wie Radisch vermutet, vielleicht immer derselbe ist. Modiano erklärt sich dies dadurch, dass er »nach jedem Buch das Gefühl habe, wieder gescheitert zu sein«. Lebensunzufriedenheit ist bei ihm der Antrieb weiterzumachen und sich auch in der Gegenwart im hermeneutischen Prozess des Schreibens der Vergangenheit anzunähern. Der Verbundenheit mit der Vergangenheit, die Aichinger von der Gegenwart entfremdet, entzieht Modiano seine Schreibkraft und betrachtet dabei rückblickend nicht nur die Zeit, in der man sich sehr lebendig gefühlt hat, sondern auch jene, in der man das gegenteilige Gefühl verspürt hat. Das Schreiben dient Modiano als einziges Kontinuum im Umgang mit seinem »zerissenen Jahrhundert« und ist gleichzeitig das Rezept zur Gegenwartsbewältigung, denn letztendlich »bleibt doch die Unzufriedenheit, die einen antreibt«.
Die letzten DingeDie letzten Dinge, das ist auch der letzte Worthall, der sich verbeitet, wenn sich die Türen des Lebens schließen und sich jene des Resonanzraums öffnen. Es sind diese pointierten Aussprüche oder Sentenzen, die sich nach der Lektüre wie ein Aphorismenfeuerwerk in den Kopf einbrennen. Sie sind durchklungen von jener Lebenskraft oder Lebensmüdigkeit, die ein Mensch im Angesicht des Todes aufzubringen vermag. Während Aichinger sich wünscht, dass ihre »Zukunft nicht mehr zu lange dauert«, beteuert Andrej Bitow, »wir sterben, aber die Welt stirbt nicht«. Was dies für einen Schriftsteller bedeutet, formuliert Amos Oz, der, sich seiner Vergänglichkeit bewusst, wünscht, dass seine Figuren den physischen Fesseln des Lebens trotzen werden und »hoffentlich ein wenig länger hierbleiben«. Der Dramatiker George Tabori hält es hingegen mit Hamlet, wenn für ihn der letzte Vorhang fällt: »The rest is silence. Stille!« Auch wenn manche der Stimmen, deren Klang Radisch in ihren Lebensendgesprächen auf exzellente Weise eingefangen hat, mittlerweile verstummt sind, so bleibt ihr Fortklang in ihren literarischen Werken doch bestehen und mit ihnen die Erkenntnis, dass es vielleicht nur die Literatur vermag, auf wundersame Weise dem Tod zu trotzen.