Zwei Menschen am Nullpunkt: die nukleare Apokalypse. Schutz spendet nur der Bunker. Aber wo lauert die größere Gefahr? In der Umweltkatastrophe oder im Menschen selbst? Was nach science fiction klingt, ist ein existentialistischer Exkurs des britischen Dramatikers Dennis Kelly. Über eine grandiose Inszenierung im JT.
Von Leonie Krutzinna
Nach dem Ende funktioniert irgendwie anders. Anders als Stadttheater mit starrem Repertoire und erstarrtem Ensemble. Das Stück bewegt sich abseits vom leidigen Broterwerb der Theater, den Zentralabiturstoffen. Schillers Räuber, Dürrenmatts Physiker und jüngst für den Englisch-Leistungskurs: Arthur Millers Death of a Salesman. Angebot und Nachfrage regeln den Spielplan. Das Junge Theater muss einige Male die Woche vormittags spielen, der Unterricht wird auf die Bühne verlegt. Ist Theater hier noch Bildung oder schon Erziehung?
Bildung, Horizonterweiterung, Impulse – all das liefert die Inszenierung von Dennis Kellys Stück Nach dem Ende, das die Theaterleitung des JT dankenswerterweise statt Juli Zehs Der Kaktus spontan in den Spielplan aufgenommen hat. Nach dem Ende ist ein Kammerspiel und als solches intimes Theater. Man will keine kollektive Katharsis, man will mit dieser Inszenierung allein sein. Der Theaterbesuch von Nach dem Ende ist beklemmend klaustrophobisch. Nichts an dem Stück ist zu viel, nichts überflüssig. Der dargestellte Raum ist ein Bunker, alles ist weiß, die Decke hängt tief, ein minimalistisches Setting. Die Leere nach dem Super-GAU.
Mark hat Louise hierher gerettet. Der ganze Freundeskreis hat ihn für den Bunker ausgelacht, den er nicht abreißen wollte, aber nun kommt er Mark zugute, rettet sein Leben und das von Louise dazu. Ein bisschen Liebe im Gegenzug zum Leben-Retten, denkt Mark. Louise hat sich immer nur über ihn lustig gemacht, hat seine Liebe nicht erwidert. Hat kokett ihre Rolle gespielt auf den Partys, Alkohol und Drogen und ein bisschen femme fatale. »Reden, lachen, trinken, Leute verarschen« – Mark hat den Mechanismus verstanden und kann sich deshalb nicht amüsieren, wirkt verklemmt und spröde. Henrike Richters und Dirk Böther stellen die Psychogramme ihrer Figuren in allen Facetten dar – schauspielerisch konzentriert, überzeugend, echt.
Mark spielt nicht in derselben Liga wie Louise und anstatt wettbewerbsfähig zu werden, ändert er einfach die Regeln des Wettbewerbs. Louise darf sich nicht waschen, denn das Wasser ist knapp. Sie darf nicht essen, denn die Vorräte sind begrenzt. Und als sie Stimmen hört und die Luke nach draußen öffnen will, muss sie an die Kette gelegt werden. Wie sonst soll sie vor dem qualvollen Strahlentod bewahrt werden? Autorität und Gehorsam. Das reglementierte Verhalten wird hier zugleich auf einer Metaebene reflektiert: Mit Dungeons & Dragons baut Mark eine zweite Wirklichkeit um das Leben im Bunker. Und ganz theaterkonventionell zeigt uns das Spiel im Spiel eine Parabel auf die Realität, lässt diese umso deutlicher hervortreten. Louise möchte im Rollenspiel eine Elfe sein, aber Mark diktiert die Realität: Louise ist Zwerg.
Das Junge Theater Göttingen entstand 1957 als innovatives und alternatives Zimmertheater. Der Schauspieler Bruno Ganz läutete hier seine Karriere ein, auch Benjamin von Stuckrad-Barre und Christian Kracht verwirklichten sich im Jungen Theater. Heute bietet das Haus rund 200 Zuschauern Platz. Unter Intendanz von Andreas Döring setzt das JT auf zeitgemäße Themen auch in klassischen Stoffen.
Glücklicherweise ist auch die Regiearbeit durch Tim Egloff frei von diffusen Ablenkungen, von assoziativen Fremdtexten oder symbolbehafteten Requisiten. Die theatersemiotische Trickkiste bleibt weitestgehend zu. Der im Dramentext angelegte Blick auf die beiden Figuren wird von der Regie präzise auf die Funktionsweise zwischenmenschlicher Beziehungen gelenkt. Und zugleich braucht das Stück kein riesiges Ensemble, sein Kammerspielpersonal verkörpert zugleich symptomatisch Weltzusammenhänge.
Und nach dem Ende? Zwar wird Louise in einer eindrucksvollen Schlussszene aus der Enge des Bunkers befreit. Aber zugleich wird sie entlassen in die chaotische Weite des Zuschauerraums. Dieses Verlorensein, das Auf-sich-selbst-zurückgeworfen-Sein im Raum verbildlicht die Erschütterung und Unsicherheit von Louises Identität, dabei wird zugleich die Diskursivierung von Schuld aufgeworfen: Äquivalent zur Unsicherheit über juristische und moralische Gerechtigkeit wird auch keine poetische Gerechtigkeit erteilt und es bleibt beim Rezipienten zu reflektieren, wo die eigentlichen Gefahren lauern: Im Menschen selbst oder in den scheinbar objektiven Weltzusammenhängen.
Nachdem die Premiere von Nach dem Ende fast ausverkauft ist, ist die zweite Vorstellung spärlich besucht. Ist zu befürchten, dass Nach dem Ende für das JT ein brotloses Stück werden könnte? Ein brotloses Stück, weil es nicht erziehen will, weil es Identitäten kritisch beäugt, weil es Autoritäten hinterfragt? Weil es bilden will?