Das Göttinger DT zeigt mit Turgenevs Komödie Ein Monat auf dem Lande ein Stück, in dem nichts passiert, was von Belang wäre. Wohin das Auge blickt, suhlt alles sich in Seichtigkeit.
Von Stefan Walfort
Für Freunde russischer Klassiker ist das Lesen des Textes eine Tortur. Wer hofft, auf Figuren von ähnlichem Raffinement zu treffen, wie sie Dostojewski und Tolstoi zu entwerfen wussten, wird von Turgenevs Drama maßlos enttäuscht sein. Alle Akteure gammeln bloß herum. Fernab von der Repression des Zarenregimes, an einem Ort, an dem sich niemand von Zensur schikaniert oder als Leibeigener ausgepresst fühlen muss, lassen sich gut betuchte Kreise von der Sonne auf ihre ohnehin nicht übermäßig beanspruchten Hirne hämmern.
Natalja, die Gattin des Gutsbesitzers Arkdij, engagiert den 21-jährigen Studenten Aleksej als Lehrer für ihren Sohn. Mit seiner unbeschwerten Art weckt Aleksej bei allen Frauen Begehrlichkeiten ‒ vor allem bei Natalja. Ihre Affäre mit dem Hausfreund Rakitin verkompliziert das Umwerben Aleksejs jedoch. Auch Nataljas Pflegetochter Veročka, genannt Vera, scharwenzelt auffällig um ihn herum. Sie macht ihm Komplimente. Sie traut aber den eigenen Gefühlen noch nicht. Mehr tölpelhaft als resolut weist Aleksej alle Offerten zurück.
Niemand will irgendwem wehtun. Weil man es nicht einmal übers Herz bringt, den jeweils anderen zur Abreise zu drängen, wie hinterrücks so oft geplant, ist das Allheilmittel für alle Fälle, in denen es brenzlig zu werden droht, der Vorschlag, halt selbst die Siebensachen zu packen. Das bisschen Gesellschaftskritik, das der Autor im Sinn gehabt hat, erstickt von Anfang an in Zuckerguss. Selbst Fontane, dessen Bücher nun wirklich nicht vor Spannung strotzen und der zu Turgenev prinzipiell anerkennend hinaufschaute, hat den Überschuss an Harmonie in Turgenevs Kunstverständnis mit Kopfschütteln kommentiert.1 Mit Blick auf das Frühwerk resümierte er: »Ich bewundere die scharfe Beobachtung und das hohe Maß phrasenloser, alle Kinkerlitzchen verschmähender Kunst; aber eigentlich langweilt es mich, weil es […] so ganz unverklärt die Dinge wiedergibt. Ohne diese Verklärung gibt es aber keine eigentliche Kunst (Hervorhebung im Orig., St. W.)«.2 Potenzial, »die Dinge« zu verklären, böte Ein Monat auf dem Lande mit dem im Zentrum platzierten Motiv der Eifersucht en masse; die KontrahentInnen könnten beim gegenseitigen Ausbooten alle Register ziehen. Turgenev schöpft es nicht aus, das Team um die Regisseurin Antje Thoms und den Chefdramaturgen Matthias Heid ebenfalls nicht. Stattdessen halten die Ensemblemitglieder getreu der Textvorlage jeden sich anbahnenden Konflikt auf Abstand. Die einen mümmeln Melonenstücke und genießen mit Gurkenscheiben garniertes Wellness-Wasser. Die anderen basteln einen Drachen, und während sie ihn steigen lassen, hopsen sie kichernd und quiekend umher. Bei all der guten Laune ist es fast schon atemberaubend, wenn der Hauslehrer Šaaf die Oma beim Würfelspiel betuppt und sie ihn deshalb anpflaumt.
Im Hintergrund dreht sich ein vorwiegend in Grau gehaltener Bungalow. Strahlend weiße Gardinen schirmen das Privateste vor neugierigen Blicken ab. Umso aufdringlicher wirken die Blicke derer, die von innen beobachten, was draußen vor sich geht. Ab und zu lugt jemand um die Ecke, um sich ja nichts von den Gesprächen der anderen entgehen zu lassen. In der Gerüchteküche brodelt es entsprechend. Serviert wird aber nur Lauwarmes. Streitvermeidung um jeden Preis und »je einfacher, desto besser« ‒ so lautet beispielsweise das Credo, auf das sich der Gutsbesitzer Arkadij (Andreas Jeßing) beruft, als er von den Seitensprüngen seiner Frau (Rebecca Klingenberg) Wind bekommt. Statt den Rivalen zurechtzuweisen, widmet er sich mit stoischer Ruhe der Arbeit auf seiner Baustelle. Vielleicht wird sich ja alles von selbst zum Besten fügen.
Hätte Turgenev das Stück nicht vor über hundertfünfzig Jahren geschrieben und wäre das Suhlen im Seichten nicht symptomatisch für die Epoche des Realismus, so könnte man meinen, der Autor nehme den seit Kurzem von Dänemark aus über die Ostsee in die Welt schwappenden Hygge-Hype auf die Schippe. »Im Deutschen bedeutet ›Hygge‹ so viel wie ›Gemütlichkeit‹ oder ›Geborgenheit‹. Reiseblogs beschreiben Hygge als einen geselligen Abend mit guten Freunden, warmem Kerzenlicht, sanfter Musik, leckerem Essen und angenehmen Gesprächen auf einer gemütlichen Couch.«3 So unterrichtet uns Bianca Hofmann über das nur auf den ersten Blick harmlos daherkommende Konzept. Die zur Philosophie verklärte Marotte ist nicht frei von Dialektik: »Als No-go für gute Laune und somit ›unhyggelig‹ gelten […] Diskussionen über umstrittene Themen ‒ insbesondere alles, was mit Politik zu tun hat.«4 Im Kern ist Hygge also diskursvernichtend, totalitär. Obendrein gelten »Fremde […] per se als ›unhyggelig‹.«5 Im Herbst 2014 ließ Erich Sidler mit einer großartigen Inszenierung von Rebekka Kricheldorfs Homo Empathicus spätestens hier, bei der Konfrontation mit einem Paar aus der Fremde, den Kuschelkurs in Tyrannei umkippen.
Leider spielen Antje Thoms und Matthias Heid bei Ein Monat auf dem Lande die dystopische Karte nicht aus. Stattdessen darf das Publikum dabei zuschauen, wie das Dienstmädchen Katja (Felicitas Madl) Erdbeeren pflückt, und ihr lauschen, während sie Liedchen trällert. Als Aleksej (Florian Donath) sie mit Lob überschüttet, presst sie ihr Kinn auf die Brust und druckst verschämt herum. Während sie ihm Erdbeeren anbietet, weicht sie weiterhin seinem Blick aus. Sich an ihn heranzuschmeißen, wie es offensichtlich ihr Wunsch wäre, wagt sie nicht. Immerhin käme sie ihrer Chefin Natalja und deren Pflegetochter Vera in die Quere, und die Folgen wären ausgesprochen unhyggelig. Es scheint, als halte sie ihre eigene Verlegenheit nicht lange aus. Schließlich drückt sie Aleksej eine ganze Schale voller Erdbeeren in die Hand und huscht von dannen.
Ausgiebiger Applaus für Knallchargen und »Klöpse«Obwohl zweieinhalb Stunden lang Ödnis regiert, scheinen weite Teile des Publikums begeistert zu sein. Es gibt ausgiebigen Applaus, und noch auf dem Heimweg können Gesprächsfetzen aufgeschnappt werden von ZuschauerInnen, die sich über Paul Wennings »Klöpse« amüsieren. Gemeint sind vermutlich die vielen Possen und Anekdoten, mit denen er in der Rolle des Arztes Špigelskij überall im Mittelpunkt zu stehen suchte. Vor allem vor Lizaveta (Gaby Dey), der Gesellschafterin im Hause Nataljas, hat sich die Knallcharge im weißen Hemd, einen feuerroten Pulli über die Schultern geschlungen, an sich selbst berauscht. Die zu Hörnern gebogenen Finger an der Stirn ‒ so hat er zuerst einen Ziegenbock imitiert und dann ohne Umschweife die Katze aus dem Sack gelassen: Ehe es sich versah, hatte das in ein geblümtes Kleid gepresste, in unsäglich quietschgelben Latschen herumwatschelnde und bis dato debil grinsende Püppchen Lizaveta seine Zunge im Rachen. Der Brüller aber war Lutz Gebhardt als Bolšincov gewesen, ein fliederfarben gekleideter Vollpfosten, der sich für drei Rennpferde von Špigelskij an Nataljas Tochter hat verkuppeln lassen ‒ eine Nebenfigur mit nicht mehr als maximal fünfzehn Minuten Auftrittszeit. Zugegeben, es war durchaus lustig. Aber lustig allein ist ein bisschen zu wenig. Für anspruchsvolle Gemüter war das alles vielmehr zum Davonrennen.