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Bäume? Brauchen wir nicht!

Trägt eine Veranstaltung den Namen Poetree, dann liegt die Vermutung nahe, dass das Ganze etwas mit Lyrik und Bäumen zu tun hat. Dass es beim 2. Göttinger Poetree-Lyrikfestival nicht hauptsächlich um Bäume geht, beweisen sieben talentierte Wortkünstler – und ein improvisierter Veranstaltungsort.

Von Melina Jander

Eigentlich sollte das diesjährige Poetree-Lyrikfestival wieder im Cheltenhampark stattfinden. Doch da das Göttinger Sommerwetter neben hohen Temperaturen und schönen Sonnenstrahlen auch jede Menge Regen dabei hat, wurde aus dem »Festival unter Bäumen« kurzerhand das »Festival unter Dachbalken«. Diese Dachbalken sind jene des Literarischen Zentrums, in dem mit viel Engagement und durch beste Organisation in kürzester Zeit gemütliche Lyrikatmosphäre geschaffen wurde. Wahrscheinlich würde im Cheltenhampark eher Festivalstimmung aufkommen als in der Düsteren Straße – einem unterhaltsamen Nachmittag mit Ausflügen in die wohl interaktivsten Ecken der deutschsprachigen Lyriklandschaft tut dies allerdings keinen Abbruch.

Der Auftakt: klassisch und dennoch unkonventionell

Den Anfang des Poeten-Festivals macht Tilman Döring, der mit seinem Slam Poetree zeigt, warum sich Poetryslam in den letzten Jahren großer Beliebtheit in der deutschen Kleinkunstszene erfreut. Was Döring den Besuchern des Poetree bietet, ist eine unterhaltsame Mischung aus Gangster-Poesie und gerappter Lyrik – ein Bruch, der gefüllt mit intelligentem Inhalt für ein begeistertes und vor allem amüsiertes Publikum sorgt. Mit mehreren kurzen Texten gibt Döring den Zuhörenden einen Einblick in seine Sicht auf die Gesellschaft: In Wir sind nichts als übt er Konsumkritik an einer technisierten Welt, in der die Selbstdarstellung jedes Einzelnen zum obersten Gebot geworden zu sein scheint; sein Ent-Liebesgedicht mit dem Tenor »Ich will, dass du mich liebst, obwohl du weißt, dass du mich haben kannst« dürfte bei dem einen oder anderen Zuschauenden Identifikationspotential haben und mit seiner zynischen Sicht auf den alljährlichen Karneval beschreibt Döring, was manch eine(r) vermutlich selbst jedes Jahr zur Faschingszeit denkt: Tage im Suff, peinlich verkleidet, früher oder später höchstwahrscheinlich mit Fremden kopulierend – entweder man mag das, oder man mag es eben nicht. Döring zählt sich selbst offensichtlich zu den ›Nicht-Mögern‹. Überhaupt erfahren die Festivalbesucher einiges aus Dörings Leben und über seine Person, zum Beispiel dass er, der er als Jugendlicher eigentlich Gangster-Rapper werden wollte, oftmals tagelang »einfach nur so rumliegt«, um sich Gedanken über dieses und jenes zu machen. Diese Gedanken dann in Lyrik zu verpacken und sie mal mit, mal ohne Hintergrundmusik vorzutragen, dürfte wohl eine der produktivsten Arten sein, mit diesem »Rumliegen« umzugehen.

Form und Inhalt: Wenn das Eine unter dem Anderen leidet

Auf eine eher theoretische Ebene begibt sich der zweite Slot des Poetree: Odile Kennel und Annie Rutherford sprechen mit Daniel Frisch über das Projekt VERSschmuggel, in dem es, kurz gesagt, um Lyrikübersetzungen geht. Die bringen nämlich, wie Kennel erklärt, so einige Herausforderungen mit sich, da es oftmals nicht möglich ist, sowohl Form als auch Inhalt eines Gedichtes eins zu eins in eine andere Sprache zu übertragen. Bei VERSschmuggel wird sich solchen und anderen Herausforderungen gestellt: In dem Projekt kommen Autoren mit unterschiedlichen Sprachkenntnissen zusammen und übersetzen in Zweiergruppen, häufig unterstützt von einem Dolmetscher, ihre Lyrik. Wieso dabei ein Dolmetscher vonnöten ist? Weil nicht selten kommt die Übersetzerpaare keine gemeinsame Sprache sprechen und für die Nachdichtung, die auf der Grundlage einer lexikalischen Übersetzung erfolgt, ein Dolmetscher seine Sprachkompetenzen in den Arbeitsprozess mit einfließen lassen muss. Mit Nachdichtung meint Kennel übrigens nicht die Übersetzung, sondern das ›neue‹ Gedicht, das von seiner Ursprungsfassung in eine andere Sprache übertragen wurde. Warum es sich dabei nicht bloß um eine Übersetzung handelt, machen Kennel und Rutherford mit ihrer gemeinsamen Lesung deutlich: Die beiden Lyrikerinnern tragen unterschiedliche Gedichte vor, sowohl auf Deutsch als auch auf Englisch. Welche der beiden Versionen dabei die erste war, wird nicht verraten. Deutlich wird aber: Der Ansatz, dass Lyrik nicht nur übersetzt, sondern nachgedichtet werden muss, leuchtet anhand der Beispiele ein, vor allem dann, wenn man wie Kennel der Meinung ist, dass Lyrik einen besonderen Formanspruch hat, weshalb der Inhalt eines Textes häufig als sekundär behandelt werden muss. Wer nun denkt, das Gespräch zwischen Rutherford, Kennel und Frisch sei eine reine Lehrstunde gewesen, der irrt. Die beiden Frauen wissen, wie man mit beeindruckend vorgetragener Lyrik die Zuhörer in den Bann ziehen kann.

Von der Ruhe zum Sturm: Sprechduette

Nachdem die Zuschauenden und -hörenden von Rutherford und Kennel in eine teilweise surreal anmutende Welt mitgenommen wurden, sorgen Xaver Römer und Julia Trompeter dafür, dass alle wieder auf dem Boden der Tatsachen ankommen – es geht nämlich wieder um (fast) Alltägliches: Urlaubsfahrten, Richard Wagner oder auch den Schweizer Künstler Jean Tinguely. Mit ihren Sprechduetten präsentieren die beiden in Köln lebenden AutorInnen und KleinkünstlerInnen, was passieren kann, wenn man sich auf musikalische Weise mit dem Wort – und nichts als dem Wort! – auseinandersetzt. Das inzwischen sehr gut gefüllte Literarische Zentrum wird mit der Performance von Römer und Trompeter kurzerhand in einen kleinen Konnzertsaal verwandelt – einziges Instrument dabei: die Stimme. Den Auftakt machen sie mit einem Stück, welches den Titel Ping Pong trägt, und »Ping Pong« ist dabei durchaus wörtlich zu nehmen: Römer und Trompeter spielen sich gegenseitig die Wörter und Klänge zu, sodass beim gemeinsamen melodischen Sprechen ein Klanggerüst aufgebaut wird, das nicht nur etwas für die Ohren, sondern auch etwas fürs Hirn ist. Wie Musik, Wort und Ironie zusammenkommen können, zeigen die beiden Lyriker mit ihrem Text (oder auch Lied?) Die Wagnerianer: Trompeter und Römer präsentieren ihre ganz eigene Interpretation von Wagners Opernzyklus Der Ring der Nibelungen. Dabei ist selbstverständlich an alles gedacht: die Besetzung, das Vorspiel, die Handlung und – ganz wichtig – die »Schlussszene mit Orchester«. Und die hat es in sich: »Streichen Streichen Streichen Streichen BLECH!!« heißt es da beispielsweise und der Zuhörer weiß sofort: Melancholisch zitternde Geigen und leidende Celli dramatisieren in Kombination mit plötzlich einsetzenden Trompeten und Posaunen die Todesszenen, mit denen Der Ring zuende geht.

Weniger dramatisch schildern Trompeter und Römer eine Urlaubsreise und in einem weiteren Stück Auseinandersetzungen über Jean Tinguely. »Ich bin Jean Tinguely«, behauptet Julia Trompeter, worauf Xaver Römer prompt antwortet: »Ich will auch Jean Tinguely sein.« Dass nur einer Jean Tinguely sein kann, dürfte von Anfang an klar sein, zu einer Einigung kommen die beiden lyrischen Ichs oder Dus jedoch nicht. Die Performance endet mit einem Text zu einem Gedicht Dieter Roths (ob man hier eine Affinität zu Schweizer Kunst- und Kulturschaffenden erkennen soll?). Um ein Haus geht es da, ein Haus, das in einem Wald steht. Und offenbar nicht besonders hübsch anzusehen ist. Aber geht es wirklich um das Haus? Vielleicht geht es auch um den Wald? Wie betont man einen Satz in einem Gedicht so, dass seine intendierte Bedeutung herausgestellt wird? Und woher wissen wir überhaupt, was diese intendierte Bedeutung ist? Diese und andere Fragen adressieren die beiden Wortmelodiker in ihrem abschließenden Text, wobei das Publikum von der Darbietung so gefesselt ist, dass es schon fast egal ist, ob es nun um das Haus oder den Wald oder doch auch etwas völlig anderes geht.

Speed-Dating mal anders

Nach dem temporeichen Auftritt von Julia Trompeter und Xaver Römer geht es mit dem Lyrischen Speed-Dating weiter. Dabei kann man die eingeladenen Künstler in einer etwas intimeren Atmosphäre kennenlernen. Das Publikum verteilt sich auf vier Gruppen und jede Gruppe trifft dann für jeweils 15 Minuten auf einen der Sprachkünstler. Diese tragen etwas aus ihren Werken vor und im Anschluss können Fragen gestellt werden. Wenn die 15 Minuten vorbei sind, wechseln die Lyriker die Publikumsgruppen, sodass alle die gleiche Chance haben, ihr »poetisches Glück« zu finden. Die Räumlichkeiten des Literarischen Zentrums werden bei diesem Slot ein wenig auf die Probe gestellt, denn während beispielsweise Odile Kennel ein Liebesgedicht aus einem ihrer Bände vortragen möchte, präsentieren nebenan Julia Trompeter und Xaver Römer eines ihrer Sprechduette, dessen Rhythus einfach so gar nicht zu dem von Kennels Liebesgedicht passen will. »Alles kein Problem«, meint die Lyrikerin, und entscheidet sich kurzerhand für einen anderen Text, mit dem sie der Laustärke des Dichterduos die Stirn bieten kann. Genau diese Spontaneität ist es, die diesen Nachmittag trotz erschwerter Bedingungen zu einer inspirierenden und kurzweiligen Veranstaltung macht, bei der auch für diejenigen, die die Lyrik nicht als ihr Lieblingsgenre bezeichnen, viele Höhepunkte dabei sind.

Konsum, Schönheit, Skandinavischer Film – ein bisschen Horror inklusive

Die informalle Atmosphäre der Dates ist vorüber und im Programm geht es im klassischen Format weiter mit Timo Brunke, der zu den Begründern der deutschen Poetryslam-Szene gehört. Mit seinem Slot Dichten downtown entführt der in Stuttgart lebende Performance-Poet sein Publikum in die Abgründe der modernen Konsumgesellschaft: der Gang zum Supermarkt mit seinem unerschöpflichen Warenangebot, den Herausforderungen an der Fleischtheke sowie den nicht zu unterschätzenden Gefahren, die an der Kasse lauern können; das Möbelhaus, in dem Intellektuelle ihre Gier nach puristischer Ästhetik zu befriedigen glauben; der Schönheits-, Pflege- und Verjüngungswahn, auf den scheinbar nicht verzichtet werden kann: »Ich bin heute jünger als bei meiner Geburt!«, heißt es da beispielsweise und wer Brunke zuvor aufmerksam gelauscht hat, weiß auch, warum. Mit manischer Präzision beschreibt der Lyriker, welches Pflegeprodukt für welches Körperteil genau das richtige ist, wir erfahren, in welcher Reihenfolge man welche Creme an welcher Stelle aufträgt, und nicht zuletzt wird darauf hingewiesen, dass wir nie schmutziger und ungepflegter als bei unserer Geburt waren. Das Publikum fühlt sich von Brunke offensichtlich bestens unterhalten, was nicht nur an seinen cleveren Texten, sondern auch seiner exzentrischen Performance liegen dürfte, denn der Lyriker kann als ›Ganzkörperpoet‹ bezeichnet werden.

Dabei ist es nicht nur die Konsumkritik an unserer aufs Materielle fokussierten Gesellschaft, die im bestens besuchten Literarischen Zentrum gut ankommt. Auch seine Ausführungen über den Skandivanischen Film sowie ein von ihm als Horrorgeschichte beschriebener Text, in dem ein Au Pair-Mädchen in der Garage ihrer Gastfamilie erschlagen wird, sorgen für sichtliche Erheiterung beim Publikum. Das liegt vor allem an den haarsträubenden Titeln, die Brunke den skandinavischen Filmen verleiht, aber auch an der bild- und detailreichen Beschreibung, die er den Mördern des Au Pair-Mädchens widmet: Es sind nämlich alte Möbel, abgelegte Kleidung und grässliche Gemälde, die – in der Garage des Hauses mehr oder weniger sorgfältig verstaut – der jungen Frau zum Verhägnis werden. Und was lernen wir daraus? Folge der Anweisung deines Vorgesetzten (hier: des Hausherrn, der seinem Au Pair-Mädchen verbot, die Garage zu betreten) und du wirst kein Leid fürchten müssen.

Wo Worte und Töne zusammenfinden

Man fragt sich, wie ein Nachmittag voller Lyrik, interaktiven Performances und überraschender Wortkunst angemessen abgeschlossenen werden kann. Die Anwort darauf liefert Marlen Pelny, die mit ihrer Songpoesie beweist, dass der Stempel ›Singer-Songwriter‹ nicht jeder dichtender Musikerin aufgedrückt werden kann. Pelny ist Dichterin. Und Musikerin. Band-Mitglied, wie sie sagt, »eigentlich Duo-Mitglied«, ist sie auch noch. Zum Poetree kommt sie ausgestattet mit Akustik- und E-Gitarre, E-Piano und ihrer zarten klaren Stimme. Was sie außerdem dabei hat, sind Worte. Zu kurzen Texten komponiert und mit eingängigen Melodien untermalt, kreiert Pelny mit ihren Worten eine einzigartige Atmosphäre, der sich die Zuhörenden von Beginn an nicht entziehen können. Das liegt auch daran, dass Pelny anstatt ihrer Loop Station das Publikum in ihren ersten Song miteinbezieht: Summend gestalten die Besucher des Poetree einen Klangteppich, auf dem sich Pelnys Worte ausbreiten können. Die Musikerin wechselt je nach Gedicht das Instrument, es scheint so, als verlangten bestimmte Texte und Inhalte nach dementsprechender Instrumentierung. Die Inhalte sind es überhaupt, die Pelnys Lyrik zu einer besonderen machen. Da geht es weniger um zynische Gesellschaftskritik als vielmehr darum, einem lyrischen Du die Sorgen und Sehnsüchte eines lyrischen Ichs nahezubringen – meist in einem urbanen Kontext, Wünsche nach Stadtflucht schwingen in vielen der kurzen Stücke mit. »Wir sagen uns, uns geht es ok«, heißt es in einem ihrer Texte, und das, obwohl uns an jedem Tag in der Woche, angefangen natürlich am Montag, etwas anderes fehle und uns am Sonntag das alles dann irgendwie geballt noch immer fehle. Es ist ein Text über die Unzufriedenheit, die Unvollständigkeit, den Wunsch nach mehr. Doch im Wissen oder Glauben darüber, dass wir dieses mögliche Mehr nicht erreichen können, geben wir uns mit dem zufrieden, was wir haben. Bis wieder Montag ist.

Poetree ohne Bäume? Ja, das geht!

Um etwa 18 Uhr ist das Poetree-Lyrikfestival vorbei, alle eingeladenen Dichter und Dichterinnen haben ihre Texte präsentiert, das Publikum hat viel gelacht, wahrscheinlich auch viel gedacht. Man kann sagen, dass trotz des wetterbedingten Umzugs vom Cheltenhampark ins Literarische Zentrum der Poetree kaum schöner hätte sein können. Die Künstler haben ihre Zuhörenden zu unterhalten gewusst, was sich nicht zuletzt auch daran zeigt, dass die auf dem Büchertisch der Buchhandlung Vaternahm drapierten Werke der Dichterinnen in die eine oder andere Tasche wandern. Und auch das Kuchenbuffet, das mit von engagierten Helfern zubereiteten Leckereien lockte, ist so gut wie leer. Kein Wunder, schließlich sorgen Kaffee und Kuchen an einem Lyriknachmittag für Stärkung und die Tatsache, dass man mit einer Spende das Migrationszentrum für Stadt und Landkreis Göttingen unterstützt, lässt den Appetit auf ein schönes Stück Kuchen gleich größer werden. Wer das Festival mit einem Buch oder einer CD in der Tasche verlässt, wird sich Zuhause über die Werke seines (eventuell neu gewonnenen) Lieblingswortkünstlers freuen können. Doch auch allen anderen dürfte dieser Nachmittag in guter Erinnerung bleiben, denn die verschiedenen Performances sowie die Kurzweiligkeit, die das Poetree-Lyrikfestival bestimmten, lassen die Vorfreude auf eine Wiederholung dieses Events auf jeden Fall steigen.



Metaebene
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 Veröffentlicht am 2. August 2016
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