Barfuß durch Hiroshima lässt in eine dystopische Welt eintauchen, die jedem Leser zeigt, dass es selbst in Notsituationen Raum für Ideale gibt, und dass der Mensch auch dann nicht aufhören sollte, zu wachsen, wenn jeder Grund dafür verloren scheint.
Von Viktoria Helene Ong
5 Uhr 30 morgens geht mein Vater aus dem Haus, wir äßen gern Nudeln, doch Würmer tun es auch! Mit Lumpen auf dem Buckel ist das Leben ganz schön hart, die Flöhe beißen immerzu und zwicken uns am Bauch!
Ein gleißender Blitz setzt ein Haus in Brand, ein Holzbalken begräbt mit seinem Gewicht Menschen unter sich; von den am 06. August 1945 um 08:15:17 japanischer Ortszeit Anwesenden entgehen von der Familie Nakaoka nur die Mutter Kimie und Gen dem Verbrennen, ihr Überleben wird ihnen zu einer Belastung. Es sind die anderen Teile, die scheinbar wichtiger sind als man selbst es ist, die sterben und in ihren letzten Momenten die unwichtigeren dazu mahnen, wenigstens sich selbst zu retten, zu (über)leben. So oder so ähnlich könnte sich Keiji Nakazawas Verlust angefühlt haben, als die Atombombe 1945 über Hiroshima abgeworfen wurde: der Verlust des Vaters sowie der älteren Schwester und des jüngeren Bruders. Wie sich der Beginn SEINES (Über)lebens zugetragen hat, das wissen wir nicht. Wir können nur vermuten, wie hoch die Übereinstimmungen zwischen dem von ihm gezeichneten Manga Hadashi no Gen – zu Deutsch: Barfuß durch Hiroshima – und seiner eigenen Geschichte wirklich sind. Hier wird Gens Geschichte behandelt, nicht Keijis. Aber ist Keiji Gen und Gen Keiji? Denn Hadashi no Gen weist Parallelen zu Nakazawas Leben auf, lässt sich durchaus autobiographisch lesen.
Dieser Teil von Gens Geschichte ereignet sich erst am Ende des ersten Bandes, denn Nakazawas Manga erzählt keine eindimensionale Katastrophengeschichte, dazu sind seine Figuren viel zu facettenreich. Zwar dienen Lieder, wie das oben zitierte, der Bevölkerung als Antrieb, das »Wir« impliziert das Ziehen an einem gemeinsamen Strang, doch zeichnet dieser Manga kein gleichförmiges Bild der Bevölkerung; vielmehr differenziert Hadashi no Gen: Es geht nicht um die Darstellung der Japaner als »Opfer« und der US-Amerikaner als »Täter«, sondern vielmehr darum zu zeigen, dass auch unter den Opfern Menschen sind, die Andersdenkende schikanieren oder, durch ihren Überlebenskampf bedingt, moralisch verwerflich handeln.
Zu Beginn des ersten Bandes begegnet uns die Idylle der Familie Nakaoka, eine Utopie, die durch das Zusammenleben mit dem Rest Hiroshimas zur Dystopie wird. Denn die Utopie ist nur greifbar, solange man die Nakaokas isoliert betrachtet. Im Vergleich zu ihren Nachbarn fallen die Nakaokas durch ihre negative Einstellung zum Krieg auf. Sie stehen nämlich für eine Ideologie ein, die von der allgemeingültigen abweicht, sind deshalb gebrandmarkt. In einem Japan, welches den Krieg bejaht, ist es primär der Familienvater Daikichi, der seine Skepsis am Krieg ausspricht. Wegen seiner Rolle als Familienvater wird somit seine gesamte Familie zu ideologisch und sozial Ausgestoßenen: Schikane ist die Folge. Die Bejahung des Krieges zeigt also nicht nur die in Japan allgemein vertretene Ideologie, sondern auch den Umgang der Bevölkerung mit jenen, die dieser nicht folgen. Ist es menschlich, die eigenen Bekanntschaften in Gruppen der ideologisch Gleichgesinnten und der Andersdenkenden aufzuspalten? Und wenn ja, ist diese Aufspaltung ein hinreichender Grund für Schikane? Unabhängig davon, ob das Verhalten begründet ist, steht in Relation dazu die Kraft der Nakaokas. Es sind Momente wie jener, in dem Eiko – die Tochter Daikichis – in der Schule dazu gezwungen wird, sich auszuziehen, weil sie gestohlen habe, denen die Nakaokas sich entgegenstellen. Dieser Trotz der Außenseiter ist es, der ein emotionales Band zwischen Lesern und Nakaokas knüpft: Der Tod dreier ihrer Mitglieder am Ende des ersten Bandes erscheint umso tragischer, die Geburt von Gens jüngster Schwester Tomokos am Tage der Katastrophe lässt hoffen.
Sie müssen sich auch anstrengen, Fräulein. Es kommen bald wieder bessere Zeiten.
Die Existenz von Band II und III erlaubt Band IV dann wieder mehr Spannung: Dieser zeigt den Leidensweg der verbliebenen Familie Nakaoka unter amerikanischer Besatzung im Nachkriegsjapan. Hier durchzieht das Motiv der Hoffnung trotz aller Schicksalsschläge die gesamte Handlung, auf die auch Gen sich im obigen Zitat einer fremden Frau gegenüber beruft; denn in jedem Zustand des Leids existieren durch minimale Bestätigungen und Ermutigungen auch Lichtblicke. Die Unterstützung des Koreaners Herr Paks zum Beispiel erlaubt es der Familie Nakaoka, auch in Zeiten des größten Notstands zu (über)leben. Diese Lichtblicke sind es, die Keiji Nakazawa uns, den Lesern, vermittelt. Man möchte weiterlesen, weiter in die dystopische Welt des besetzten Japans eintauchen und zusehen, wie aus dem Kern Hoffnung, der Familie Nakaoka vorantreibt, eine gesunde Pflanze inmitten verseuchter Felder wächst.
Doch wächst sie leider in keiner deutschen Übersetzung: Dem geneigten Leser bleibt keine andere Wahl, als sich an die englische Version der Bände V-X unter dem Titel Barefoot Gen zu wenden, auch, da derzeit keine Pläne für Übersetzungen weiterer Bände vorliegen. Barfuß durch Hiroshima existiert leider nur bis einschließlich Band IV.