Nach dem Album und den Lieblingsflops präsentiert Hans Magnus Enzensberger nun ein künstlerisches Gemeinschaftsprojekt: Im Dreisatz von Lyrik, Bild und Arrangement lädt das »Text-und-Bildbuch« BLAUWÄRTS von Hans Magnus Enzensberger, Jan Peter Tripp und Justine Landat ein zu einem Ausflug in die blauen Regionen »hinter der Nebelwand des Gehirns«.
Von Alena Diedrich
Dorthin, »wo dein Ich nichts wiegt« führen die drei Urheber denjenigen, der mit ihnen den intermedialen Sprung durch Text, Bild und den Raum in deren Zwischenräumen wagt. Denn keinen einfachen Gedichtband hat der Lyriker Enzensberger verfasst, keinen reinen Bildband der Maler Tripp. Dass das Ganze meist mehr ist als die Summe seiner Teile, enthüllt das Arrangement der beiden gleichberechtigten Medien in einem künstlerischen Dreisatz. Justine Landat fungiert dabei als ,Relationskünsterlin‘, die im feinen Spiel von Text und Bildern verborgene Zusammenhänge herausstellt.
Eins LyrikHinter der Nebelwand im Gehirn
Gibt es noch andre Gegenden,
die blauer sind, als du denkst.
Unsichtbares und Ungreifbares steht im Zentrum von Enzensbergers Gedichten ebenso wie Leichtes, Verborgenes, Vergängliches und Vergangenes. Nachbarn, die da sind, aber die man nicht sieht, ungeladene Gäste, doch auch solche, die man geladen hat und die jedoch »vermißt werden, weil sie unter der Erde liegen«, sind die Protagonisten in Enzensbergers Gedichten. In vielen Texten blickt der Sprecher zurück und verweist auf entstandene Lücken. Einer, der fehlt, ist der Autor und Künstlerfreund Max Sebald, andere bleiben unbestimmt und manchmal auch deren jeweiliger Verbleib. Den Dagebliebenen allerdings bleibt das Fehlen eingeschrieben: »wir, wir wissen bescheid«.
Text-Bild-Verschränkungen in Tiefblau (S. 22-23).
Doch nicht Trauer und Melancholie überwiegen in Enzensbergers Gedichten. Da im Diesseits Lücken bleiben, ist dort auch Raum für Verborgenes. Die Alltagsmythologie der Waschmaschine, das Lebensende eines Seifenstücks, der lebensspendende graue Fleck auf der glänzenden Kastanie – »die winzige Narbe der Nabelschnur« – oder die ewige Reinkarnation einer Blechdose innerhalb der Recyclingkette – Enzensbergers Gedichte fokussieren Alltägliches und entdecken in Momentaufnahmen das Sakrale im Profanen. Unendlichkeit, Vollkommenheit und Reinkarnation sind daher ebenso Themen des Gedichtbandes wie alles Flüchtige. Das Bild auf der Kiste von ›Hoffmanns Stärke‹ eröffnet auf dem engen Raum einer dunklen Besenkammer einen unendlichen Regress. Es zeigt eine Katze, »wie sie sich putzt, / wie ihre linke Pfote / auf einer Schachtel ruht, / auf der ein Bild zu sehen ist, / das Bild einer schneeweißen Katze … // Wie sie sich putzt, wie ihre linke Pfote / auf einer Pappschachtel ruht, / auf der das Bild einer Katze zu sehen ist …« Doch der Regress führt heraus aus dem eingestaubten abgeschlossenen ,Oberstübchen‘ ins Unendliche, wo die Erleuchtung wartet:
Zwar ist die Pappschachtel leer,
doch auf dem Deckel steht
in schneeweißer Schrift:
Die größte Reinheit dieser Stärke
wird garantiert.
Dreh- und Angelpunkt des lyrischen Konglomerats ist das Weißheits- bzw. Weisheitsorgan, das Gehirn des Autors, dessen »Dämonisches Enzephalogramm« von den gut verschalteten Synapsen eines seit Jahrzehnten emsigen Sammlers zeugt: »Ein halbes Jahrhundert später ist mehr los in meinem Gehirn als auf jedem Rummelplatz.« Große Männer, Geschichtsschreiber und ,Helden des Rückzugs‘ tauchen in den Gedichten auf, ebenso wie der vergebliche Kampf »Ganz allein gegen die Entropie« und der von Enzensberger viel gelobte ,Eigensinn‘, diesmal gegen die Architekten:
Gelobt sei, wer euer Werk sabotiert: Die alte Frau
die ein Heiligenbildchen an die Betonwand klebt
und das blinde Fenster mit einer Häkeldecke verhüllt,
der Staubsaugervertreter, der seinen Hühnerstall
mit einem Alpenpanorama verziert.
Typographisches Fortschreiten: Das Enzephalogramm (S. 112-113).
,Große Fragen‘, Grenzwerte, Geometrie und Gottesteilchen – was »die Welt {im Innersten} zusammenhält« – die Theosophie und Naturmystik eines Swedenborg und die an Leibniz angelehnte Frage »Warum wiegt etwas etwas und nicht vielmehr nichts?« stehen neben ökologischen und politischen Themen, die fast beiläufig in die Gedichte einfließen:
Einige Schiffbrüchige haben knapp überlebt
auf dem Floß der Medusa, doch nur,
weil sie Menschenfleisch aßen.Auch als Usain Bolt beim Spurt in Berlin siegte,
ging es um Zehntelsekunden.
Heute noch scheitern die meisten
vor der Küste von Lampedusa.
Ein ewig sich fortflechtender Reim verbindet die deutsche Geschichte mit politischen Parolen, Alltagsbanalitäten und Zeitgeschehen als wäre jede Mode schon einmal dagewesen. Der verborgene rote Faden in der Historia webt Unheilvolles in den Gleichklang der Enzensberger’schen Terzinen ein:
Doppel BilderDort treffen sich die Rocker und die Pendler.
Dort brach sich schon so mancher das Genick.
Ja, das Finanzamt plagt die Mittelständler!Das alte Dirndl ist jetzt wieder schick.
Der Bürgermeister hat was mit der Gabi.
Dies war im Krieg die Munitionsfabrik.
Durch das Arrangement der Gedichte und Bilder, die »Inszenierung« durch Justine Landat, entsteht ein mehrdimensionales Kunstwerk das über seine Einzelmedien hinausweist und dazu einlädt, den offenen Raum zwischen den Zeilen sowie den Abbildungen zu betrachten. Die Bild-Bild- und die Text-Bild-Relationen öffnen in ihrem gegenseitigen Kommentar zumeist mehr Bedeutungsspielraum als die Typographie.
Ironie im Dialog der Künste: Das Alpenpanorama (S. 94-95).
Enzensbergers Gedichte eigenen sich weniger zur konkreten Poesie, auch wenn das Aufbrechen der gewohnten Leserichtung oder das Transparentwerden abfolgender Zeilen dem Thema der Texte entspricht. Die Gedichte verlieren zwar nicht durch ihre weniger starre Typographie, doch sie gewinnen mehr durch ihr Verhältnis zum eigentlich unabhängig entstandenen Bildmotiv. Denn Tripps Motive und Enzensbergers Gedichte sind ursprünglich nicht als Doppel angelegt, dennoch verbindet sie ihre ironische Transzendenz. Das Alpenpanorama verziert nicht – wie im Gedicht angekündigt – den Hühnerstall eines eigensinnigen Geflügelhalters, sondern es schmückt eine Doppelseite des Gedichtbandes selbst und verweist so, im Dialog der Künste, auch auf deren augenzwinkernde Selbstironie.